«The Next Big Thing Money from Nuthin’»

Nachdem der Personal Computer Ende der 80er-Jahren endgültig zum Markterfolg wurde und die Computernetzwerke weiter expandierten, erschien VR erstmals als das « next hot medium »1. In der entstehenden VR Euphorie versprach die «technology of miracles and dreams» 2 ein bisher unbekanntes Erlebnis. Dies stellte sich bald schon als etwas zu optimistisch heraus. Die grafische Leistung der frühen Systeme war meist zu unausgereift, um überzeugende Landschaften abzubilden, die Netzwerke zu langsam, um Gegenstände in Echtzeit darzustellen, und die Brillen und dazugehörige Hardware, die mitunter mehrere hunderttausend Dollar kosteten, viel zu teuer und zu grobklotzig, um sie im Heimnutzen zu verwenden. Zumal fehlte trotz wiederkehrender Ankündigung die VR ‹ Killer App ›, die der Technologie einen praktischen Sinn gab. Dass sich all dies dennoch nicht negativ auf die Wahrnehmung der neuen Technologie auswirkte, lag vor allem daran, dass im Zentrum der ersten VR Euphorie nicht technische, sondern utopische Prophezeiungen standen.

VR wurde zu Beginn der 90er-Jahre zu einem regelrechten «Disneyland for epistomologists» 3, wie John Perry Barlow in der Cyberpunk Zeitschrift Mondo 2000 erwähnte. Der ehemalige Grateful Dead Lyriker, Republikaner und Mitgründer der Electronic Frontier Foundation (EFF) spielte dabei selbst eine wichtige Rolle, obwohl er zwar keine Anwendungen programmierte, jedoch in zahlreichen Essays und Interviews Vorstellungen prägte und sich in regem Austausch mit verschiedenen Entwickler*innen befand. Doch auch neben Barlow entstanden Kulturdiagnosen, in denen VR als eine neue Bewusstseinserfahrung erschien. So betonte beispielsweise der amerikanische Philosoph Michael Heim den primär philosophischen Charakter der neuen Technologie: «The ultimate VR experience is a philosophical experience» 4. Und auch von den Entwickler*innen wurden solche Visionen mitgetragen. Jaron Lanier beispielsweise sinnierte in einem Interview, das 1988 im Whole Earth Review erschien, von einem «extraordinary tool for increasing communication and empathy», das bisherige Distinktions- und Ungleichheitsmerkmale auflösen würde: «Virtual Reality is the ultimate lack of class or race distinctions or any other form of pretense since all form is variable. » 5

Wie schon in der kulturellen Flankierung des PCs vermischten sich solche utopischen Wünsche über « the biggest thing since we landed on the Moon » 6 (Lanier) allerdings bald schon mit den bis heute wirkenden (cyber-)libertären Vorstellungen. Als ‹ digital Frontier › erschien der visuell begehbare Cyberspace nicht nur als Raum der individuellen Entfaltung, sondern vor allem als imaginierter Ort unendlicher Kapitalakkumulation, in der junge Unternehmen dank Deregulierung und unendlicher Ressourcen für neue wirtschaftliche Prosperität sorgen sollten. « The Next Big Thing Money from Nuthin’ »  7, so lässt sich der Traum dahinter mit einem von Barlow verfassten Zwischentitel zusammenfassen, der einigen heutigen Visionen durchaus ähnlich ist.

Ein Cyberpunk Projekt

Zu den ersten populären Fürsprechern der VR Technologien gehörte der amerikanische Autor Howard Rheingold, der mit Virtual Reality (1991) eine ausgedehnte Reportage verfasste, in der er anhand von Interviews, Tests und Besuchen bei verschiedenen Entwickler*innen VR als ein neues «Kommunikationsmedium im Embryonalstadium» beschrieb. Rheingold charakterisierte VR dabei als ein «magisches Fenster», das sich in zwei Richtungen öffnen liess. Erstens erweitere VR als Fortsetzung der Intelligenzverstärker die Welt der Wissenschaft, zum Beispiel indem sie für die Produktion oder die Medizin interaktive Modelle generiert. Für diese Funktion von VR steht in Rheingolds Verständnis vor allem das 1982 gegründete Unternehmen Autodesk. Dieses wurden durch sein erfolgreiches ‹ computer-aided design Programm › AutoCAD und später durch seine 3D Softwares wie 3D Studio bekannt. Autodesk forschte in seinen Anfängen aber auch an begehbaren 3D Umgebungen und besass über seine ersten Mitarbeitenden einen engen Kontakt zur amerikanischen Cyberkultur. Zweitens öffne VR Zugang zu unseren « innersten Träumen » 8, zum Beispiel indem der virtuelle Raum zum Ort sexueller Interaktion wird oder indem sie neue Bewusstseinszustände erlaubt. Auf dieser Position sieht Rheingold exemplarisch Lanier und sein 1984 gegründetes Unternehmen VPL Research, das bis zu seinem Konkurs 1993 einige der ersten kommerziellen VR Systeme mit Head-Mounted Display und Bewegungssensoren entwickelte, darunter der von der NASA wie auch von Nintendo genutzte Data Glove.

Zu Beginn der 90er-Jahre beworbene VPL VR Systeme.

Beide Stossrichtungen einte die angestrebte Symbiose aus expandierenden Netzwerkverbindungen und den verbesserten grafischen Möglichkeiten, die sich mit den bestehen Cyberpunk Visionen verbinden liessen. Insbesondere die Cyberpunk Romane von William Gibson – der Erfinder des Begriffes ‹Cyberspace› – und später jene von Neal Stephenson – der Erfinder des Begriffes ‹ Metaverse › – prägten das Bild einer virtuellen Landschaft, die durch visuelle Technologien wie den VR Headsets künftig begehbar sein sollte. Die Vorstellungen schlugen sich sowohl in den kulturellen Imaginationen als auch in der technischen Umsetzung nieder. So verkündete zum Beispiel Rheingold, dass dank den stetig wachsenden Netzwerken mittlerweile die « Infrastruktur der Gibsonschen Matrix » 9 existiere, in der künftig nicht nur Text, sondern auch virtuelle Objekte betreten und versendet werden können. Auch Autodesk knüpfte an die Vorstellungen des Cyberpunks an. In der ersten Ausgabe der Mondo 2000 warb das Unternehmen in einer zweiseitigen Werbereportage mit dem Slogan « Reality isn’t enough any more » für sein hauseigenes VR Cyberspace Projekt ‹ Cyberia ›, das in Richtung eines virtuellen Design Systems ging, das man aber zugleich mit Gibsons Vision in Verbindung brachte. In einem 1988 verfassten White Paper, das die virtuelle Realität ebenfalls als neusten Evolutionsschritt der Computertechnologie bewarb, wurde das eigene Projekt gar als ‹ Autodesk Cyberpunk Initiative › bezeichnet.10 Zudem bezog man sich hier auch explizit und affirmativ auf die Romane von Rudy Rucker oder Fredrik Pohl. Deren Science-Fiction Visionen entnahm man, dass VR zwar auch in Zukunft an bestimmte Hardware gekoppelt und damit räumlich gebunden sein würde, es aber zugleich tragende Grundpfeiler der bisherigen Realität auflösen und so eine neue Bewusstseinserfahrung auslösen werde: « [C]yberspace experience will transcend space and time » 11, so lautete das daraus abgeleitete Versprechen.

Die erhoffte Transzendierung von Zeit und Raum und das damit angedeutete ewige Leben im digitalen Raum gehörte zu den verbreiteten, mitunter spirituell angehauchten Annahmen über VR und den Cyberspace. Doch die Transzendierung von Zeit und Raum führte meist nicht in eine utopische Zukunft, sondern reproduzierte vor allem bekannte kulturelle Vorstellungen aus der Vergangenheit. So setzte man bei den VR-Fans und -Entwickler*innen beispielsweise auf die Motive der amerikanischen Gegenkultur. Barlow verglich die virtuelle Realität mit Psychedelikas und Autodesk arbeitete für ihren ersten Werbefilm mit Timothy Leary, eines der bekannten Gesichter der amerikanischen Hippies, der in den 60er- und 70er-Jahren insbesondere als ‹ Prophet › für LSD bekannt wurde. Diese Bezüge zur Gegenkultur verstärkten sich durch die Berichterstattung der Massenmedien. Das Wall Street Journal beschrieb die VR-Technologie als « electronic LSD » 12 und der Dreadlocks tragende Lanier wurde alleine schon aufgrund seines Auftretens mit den Hippies in Verbindung gebracht.

Jaron Lanier Anfangs der 90er-Jahre

In der Verbindung von VR und Gegenkultur gab es auch inhaltliche Gemeinsamkeiten. In der Tradition der gegenkulturellen Medienexperimente bildete VR für Lanier beispielsweise einen kreativen Kommunikationsraum, in dem das Individuum die volle Kontrolle über seine Umwelt enthält – und zugleich harmonisch darin aufgeht. So betrachtete er die VR als das erste Medium, das die Erschaffung einer individuellen Realität ermögliche, die nicht durch andere vorgegeben wird: « In Virtual Reality, there’s no question that your reality is created by you. You made it. » 13 An diese Vorstellung anknüpfend verglichen andere Berichte die virtuellen Welten mit einer neuen Form des Theaters. Autodesk Mitarbeiter Randal Walser beschrieb beispielsweise in einem Forschungsbeitrag von 1990 den Cyberspace als « a theatrical medium » 14, das im Gegensatz zum Medium Film und der realen Theaterbühne die Macht der Imagination und Kreation in die Hände der Nutzer*innen legt.

Durch die virtuellen Welten und ihre individualisierte Schöpfungskraft können bestehende soziale Normen durchbrochen werden. Gleichzeitig betonte Lanier, dass er der Kommerzialisierung seiner Technologie alles andere als abgeneigt sei. Entsprechend wurde er auch in wirtschaftsnahen Kreisen offen empfangen. Das Wall Street Journal widmete dem VR Entwickler und seiner « World Without Limits » 15 am 23. Januar 1991 gar einen Artikel auf der Titelseite. Diese Verbindung von kulturellen und wirtschaftlichen Interessen war, wie mittlerweile durch die Analysen von Fred Turner oder Mark Dery ausreichend bekannt, kein Widerspruch, sondern führte die Ideologie des Cyberpunks wie auch die der technikaffinen Gegenkultur fort: Mit den neuen Technologien verfolgte man einen kulturellen und gesellschaftspolitischen Anspruch, der in Anlehnung an die New Age Visionen verschiedene Entfremdungserfahrungen rückgängig machen wollte. Damit ging das Interesse an der Weiterentwicklung der VR-Technologie über ein simples Profitinteresse hinaus. Gleichzeitig aber pflegte man zum wirtschaftlichen Erfolg, wie er von Apple und anderen Firmen der ersten Generation erfolgreicher Computer Unternehmen vorgelebt wurde, ein äusserst produktives Verhältnis. Der Markt erschien als potenzieller Katalysator der eigenen Ideen. So hatten viele Entwickler*innen weder theoretisch noch praktisch Probleme mit der Kommerzialisierung und den damit verbundenen Notwendigkeiten, beispielsweise was die intensive Suche nach Investor*innen und Risikokapital für die eigenen Firmen betraf.


Von der Mitte nach rechts: Timothy Leary, Eric Gullichsen und William Gibson, zusammen mit anderen Künstler*innen 1990 an der Ars Futura in Barcelona

Digital Frontier

Als kulturelles Verbindungsglied zwischen individuellen Entfaltungs- und Kapitalinteressen fungierte das Bild der Frontier. Darunter verstanden wird der durch Frederick Jackson Turner geprägte amerikanische Mythos vom rauen Grenzland beziehungsweise dem ‹ Wilden Westen › und seinen Werten von Freiheit, Individualismus und Unabhängigkeit, die als Grundlage späterer Prosperität und eines unerschöpflichen Erfindergeistes inszeniert werden. Diese Vorstellung aufnehmend verglich beispielsweise Barlow den sich durch VR öffnenden Raum in seinem bekannten Erfahrungsbericht Being in Nothingness (1990) mit der ‹ Entdeckung › Amerikas: «Columbus was probably the last person to behold so much usable and unclaimed real estate (or unreal estate) as these cybernauts have discovered.» 16 Wohlwollend gelesen zeugt die Verbindung von Kolonialismus und Immobilienwirtschaft von einem kritischen Unterton. Doch mehrheitlich verstand Barlow in seiner Reportage, in der er ein VPL System testet und Autodesk besucht, das Verhältnis der so von ihm bezeichneten ‹Pioneers of Cyberspace› zum Frontier Diskurs affirmativ. Der digitale, durch die virtuelle Realität erlebbar gemachte Raum bildete eine bisher ungenutzte Fläche, die umfassend belebt und bewirtschaftet werden konnte. Und die ersten Unternehmen zeigten, wie es geht: In belebender Konkurrenz streiten sich die jungen VR-Firmen um die besten Ideen, ohne dabei durch staatliche Regulierungen gebremst zu werden.

Diese Hoffnung wurde von anderen Autor*innen aufgenommen. So erklärte beispielsweise ein Einführungswerk in die VR Technologien von 1993 anlässlich der Euphorie rund um die jungen Unternehmen wie VPL oder Sense8: « The Silicon Valley myth of starting a business out of a garage and growing it into successful company is still alive and well. » 17 Über dieses unternehmerische Wachstum sollten erst neue Produkte und dann im besten Falle Spinoffs entstehen, die die neue Technologie auch für den Massengebrauch zugänglich machen: « The commercial colonization of cyberspace was beginning » 18, so lautete Barlows positiv verstandener Befund. Diese Vision wurde zwar stets mit dem Anspruch nach einer neuartigen Kommunikationsform legitimiert. Das heisst beispielsweise, dass VR als « shared experience » 19 anders als unser bisheriger sozialer Austausch funktionieren sollte. Letztlich ging es aber vor allem um den Traum unendlichen Wachstums, der in Form der virtuellen Landnahme risikofreier daherkam als die reale Kolonialisierung. Dass sich diese Vorstellung in ihren kulturellen Bildern dennoch nicht von ihrem historischen Vorbild trennen lässt, dass es also, so die These von Ziauddin Sardar, in der Imaginationsgeschichte eine enge kulturelle Verbindung zwischen der « occupation of cyberspace » und der «colonisation of non-Western cultures» 20 gibt, wird in solchen Träumen des immer verfügbaren Landes, das es zu erobern gilt, ebenso angedeutet.

VR Gaming Angebote der Virtuality Group

Äussere Bedrohung und innere Dynamik

Dem Frontier Mythos enthalten ist das Versprechen nach grösst möglicher individueller Entfaltung, die sich in ständiger, mitunter gewaltvoller Abgrenzung zu anderen herstellen lässt. Lanier beispielsweise betonte in einem Interview mit Barlow, wie die VR im Gegensatz zur eigentlichen Realität eine risikolose Interaktion erlaube.21 Virtueller Sex erscheint ohne Nebenwirkungen und wann immer einem unwohl ist, kann man sich vom System abkoppeln oder eine neue Realität konstruieren – eine oftmals, aber nicht ausschliesslich, männliche Perspektive.22 In Einklang damit verglich Barlow seine VR-Erfahrung mit der Welt des kleinen Prinzen.23 So wird sich in der virtuellen Welt in Zukunft jeder seinen eigenen, dezentralisierten kleinen Planeten erschaffen. Dies hat zur Folge, dass es irgendwann auch keine Interventionen oder politische Verständigung mehr braucht. Bei potenzieller Uneinigkeit, beispielsweise bezüglich der vorherrschenden Politik, kann man sich einfach einen neuen Platz im Cyberspace bauen, so Barlow in einem späteren Text: « If you don’t like the politics of the system you’re on, you can set up your own for the price of a clone and increasingly cheap Internet connection. » 24 Höhepunkt dieser Vorstellung bildete später Barlows 1996 am WEF in Davos vorgetragene Declaration of the Independence of Cyberspace, die den Cyberspace zum unabhängigen und dezentralisierten Raum erklärte, um ihn vor staatlicher Regulierung zu schützen.

Der virtuelle Raum wird im Frontier Diskurs stets durch eine eindringende Kraft bedroht. Bei Barlow ist dies « the American Occupation Army of Cyberspace » 25, so seine Metapher für den Staat, der mit dem Einmarsch in das ihm fremde Territorium droht, weil er die darin bestehenden Freiheiten nicht zulassen will. Dies hätte zu Beginn vor allem Folgen für die « few aboriginal technologists and cyberpunks » 26, die ihren Lebensraum verlieren – in dieser stetig weiter aufrechterhaltenen Allegorie des Wilden Westen wird der Vergleich historisch immer abstruser: Die Cyberpunks werden als « nomadic and tribal » mit einem « Indian sense of property » beschrieben, während die Techies wie die VR-Entwickler*innen den « mountain men of the Fur Trade » gleichen. Beide lebten bisher gemeinsam in einem unbegrenzten Spiel- und Experimentierfeld, das nun bedroht werde. Dieser Verlust träfe allerdings, so das eigentliche Argument von Barlow, auch alle zukünftigen Bewohner*innen der virtuellen Welt. Beispielsweise könnten diese ihre « privacy, freedom of expression, economic opportunity, and property rights » 27 verlieren, wenn die bisherigen Freiheiten durch staatliche Einmischung eingeschränkt werden.

Diese Furcht vor einer Regulierung zieht sich durch die verschiedenen Texte hindurch, die sich in den 90er-Jahren positiv auf VR bezogen. Auf Rheingolds Buchrückseite von Virtual Reality wird beispielsweise Jerry Garcia, Gitarrist von Grateful Dead, mit einer Vorahnung zitiert: « They made LSD Illegal. I wonder what they’re going to do about this stuff. » 28 Das Argument dahinter war stets dasselbe: Die durch den freien Raum und freien Markt ausgelöste Prosperität und soziale Harmonie verfällt mit jeglichen staatlichen Regulationsversuchen. Dieser libertäre Glaubensgrundsatz, der sich im Cyberspace beziehungsweise in der sich anbahnenden Dotcom-Blase bestätigt sah, fand sich (nun meist über die VR Technologien hinausgehend) nicht nur im amerikanischen Sprachraum. Der deutsche Justizminister Edzard Schmidt-Jortzig (FDP) erzählte beispielsweise in einem Interview mit dem Spiegel von 1996 begeistert, wie das Internet und seine «anarchische Struktur» 29 den Nationalstaat und seine territorialen Grenzen herausfordere und dabei zugleich einen neuen Kapital- wie Informationsfluss zulasse: « Information ohne Grenzen ist für einen Liberalen etwas Wunderschönes. » 30

Sowohl bei Schmidt-Jortzig als auch bei Barlow löst der virtuelle Raum bestehende wirtschaftlichen Probleme, indem er zu einem mit Selbstregulierung durch Eigenverantwortung funktionierenden Raum der Konsumation und Produktion wird. Inszeniert wird dies als Chance für die Menschheit: Die deregulierten virtuellen Welten bringen Wohlstand und individuelle Freiheiten, die, wenn nötig, in immer neuer individueller Abgrenzung virtuell erschaffen werden können. Dies lässt sich allerdings auch als fluchtartige imaginäre Antwort auf eine gesellschaftliche Realität lesen, deren Ressourcenknappheit oder postfordistische Überakkumulationskrisen im virtuellen Raum aufgehoben werden sollen – und dies trifft sich durchaus mit der Selbsteinschätzung von Barlow, der die euphorischen Zukunftspläne für den virtuellen Raum unter anderem mit der ökonomischen Begrenztheit in der realen Welt erklärt: « We must seek our future in the virtual world because there is no economic room left in the physical one. » 31

Vom Techno-Paganismus ins libertäre Paradies

Die Geschichte der ersten VR Euphorie verdeutlicht, dass es eine enge Verbindung zwischen kulturellen Vorstellungen der Gegenkultur, libertärer Ideologie und technologischer Entwicklung gab. Teile davon zeigen sich noch heute, etwa in einigen libertären Web 3.0 Visionen und dazugehörigen Dezentralisierungsdiskursen. Doch das Interesse und die kulturellen Motive konnten sich auch rasch gemäss den sich wandelnden Marktinteressen ändern. Ein nachträglich in seinem klischierten Ausgang fast schon komisches Beispiel hierfür bildet die Geschichte des ehemaligen Autodesk Mitarbeiter Eric Gullichsen, der 1990 mit ‹ Sense8 › ein eigenes VR Unternehmen gründete, nachdem Autodesk sein Cyberia nach kurzer Zeit wieder einstampfte. Sense8 produzierte günstige VR Programme beziehungsweise Systeme, darunter einige Anwendungen für das amerikanische Militär, zum Beispiel einen Helikopter Simulator. Gullichsen war aber auch eng mit der amerikanischen Cyberkultur verbunden. So führte er unter anderem Ende der 80er-Jahre Timothy Leary in die VR Technologie ein, was bei diesem nach dem ersten Test einen Bewusstseinswandel auslöste, der in einem legendarisch erhaltenen Ausruf mündete: « I was wrong about space migration. Humanity is not going to migrate into outer space. We’re going in there. That’s what’s next. It’s digital acid. » 32

Später veröffentlichte Gullichsen mit Leary zusammen einen Artikel über den ‹ high-tech Paganism ›.33 Darin betonen die beiden Autoren, dass sich Realität und Bewusstsein dank neuen Technologien wie VR zunehmend auflösen beziehungsweise sich neu zusammensetzen liessen. Bei diesem Prozess wird der Cyberpunk zum Vorbild, indem er als ‹modern Alchemist› oder ‹electro-shaman› die Realität verändert und die zentralen « metaphors, rituals, life styles for dealing with the universe of information » 34 mitbringt. Als technologische Grundlage hiervon fungiert der Personal Computer. Bildschirme bilden bereits heute « magical mirrors » samt « alternate realities ».35 Die Möglichkeit, digitale Informationen von Festplatte zu Festplatte zu kopieren, zeige, dass es für Informationen, aber daraus abgeleitet auch für den Menschen, möglich sein soll « to exist simultaneously in many forms. » 36

Teil von diesem spirituellen Ansatz bildet ein neuer Individualismus, für den der Cyberpunk Lifestyle exemplarisch stand. So entwickle sich in der jungen Cyberpunk Generation eine « psychology of individual navigation. The basic idea is self-responsibility. You just can’t depend upon anyone else to solve your problems. » 37 In einer Welt, deren Realität wandelbar ist, bildet das Individuum den Ursprung einer neuen Verbindung zu seiner Umwelt, beispielsweise indem sich jeder das Recht herausnimmt, selbst eine der Zeit angemessene Religion zu kreieren. Zu Ende gedacht führte dies zu einer mitunter komisch anmutenden Bürokratisierung des Lebens, die Leary und Gullichsen jedoch als durchaus ernsthaften Vorschlag für die digitale Zukunft von VR und anderen Cyberspace Technologien beschrieben:

This apparently means forming private alliances, formulating personal political platforms, conducting your own domestic and foreign relations, establishing trade policies, defense and security programs, educational and recreational events. On the upside, one is free from dependence upon bureaucracies, an inestimable boon. […] And if countries have histories and mythic origins, why shouldn’t you?  38

Im radikalisierten Cyberpunk-Individualismus wird der Mensch analog zum Personal Computer zum ‹ Personal State ›, der in seiner virtuellen Welt für seine Selbstoptimierung und seinem Fortleben nur sich selbst vertrauen kann und der dabei zum informationsverarbeitenden Gebilde wird. Damit wird auch die Bürokratie nicht wie angekündigt geringer, sondern einzig vom Öffentlichen ins Private verschoben.

Wohin solche Vorstellungen führen konnten, zeigte sich einige Jahre später. Nach dem ersten Höhepunkt der VR Euphorie verschwand Gullichsen zunächst aus der Öffentlichkeit, bis er 1999 von Zeitschriften wie dem Times Magazine oder dem Spiegel aus der Versenkung geholt wurde. Der VR Entwickler hatte in der Zwischenzeit keine neue Religion gegründet, sondern nach dem Verkauf seiner Software Firma Sense8 ein neues Geschäftsfeld gefunden. Nachdem er zusammen mit Eric Lyons, der ebenfalls an Autodesks Cyberia forschte, den Auftrag des Pazifikstaates Tongas erhielt, das Internet auf die Inseln zu bringen, wurde Gullichsen zum ‹ computer consultant › von Tongas König. Dies brachte ihm die Möglichkeit, in einer Privatfirma mit Beteiligung von Lyons und dem Kronprinzen Tongas den Domain ‹.to › zu vermarkten, was angesichts geringer Investitionskosten während des Dotcom Booms ein lukratives Geschäft bildete. Zugleich verriet Gullichsen dem Reporter des Time Magazine auch seine Zukunftspläne, die sich ganz nach Prototyp einer libertären Utopie anhören. Zuerst wolle er eine Banking Plattform für Offshore Firmen gründen, danach hoffe er sich auf einer ihm überlassenen Nebeninsel von Tonga seinen Lebenstraum zu erfüllen: « I’m setting up an ecologically closed community. I’ll have a wind generator, solar panels, a geodesic dome and hydroponics. I want to live off the grid but still be online – be connected to the global fabric but from a venue that is free from regulation and in harmony with the environment. » 39 Wie weit sich dieser Traum einer Synthese von Gegenkultur und libertärem ‹ Mikrostaat › Utopie umsetzen liess, ist unklar, doch immerhin ist Gullichsen bis heute offizieller Ansprechpartner Tongas für den Domain .to.

References
1 Thomas, Wes: Hyperwebs, in: Mondo 2000 (2), 1990, S. 68.
2 Sherman, Barrie D.; Judkins, Phillip: Glimpses of Heaven, Visions of Hell: Virtual Reality and Its Implications, London 1992, S. 126. Sherman und Judkins betonen in ihrem VR Buch in klassisch amerikanischer Weise beide Seiten der neuen Technologie. Einerseits biete sie ungeahnte Möglichkeiten der Imagination (die ‹ Glimpses of Heaven ›), andererseits kann VR von totalitären Mächten als Bewusstseinskontrolle eingesetzt werden (die ‹ Visions of Hell ›), wobei das dystopische Potenzial jeweils entweder mit den Visionen von Orwells 1984 oder mit den Machenschaften der UdSSR verglichen wird. Wohin es geht, entscheiden wir letztlich selbst. Doch mit genügend Wissen über die neue Technologie wird sich, so der Grundtenor des Buches, die positive Seite durchsetzen.
3 Barlow, John Perry: Being in Nothingness. Virtual Reality and the Pioneers of Cyberspace, in: Mondo 2000 (2), 1990, S. 36.
4 Heim, Michael: The Metaphysics of Virtual Reality, in: Helsel, Sandra Kay; Roth, Judith Paris (Hg.): Virtual Reality: Theory, Practice, and Promise, Westport, London 1991, S. 33.
5 Lanier, Jaron; Heilbrun, Adam: A Protrait of the Young Visionary, 1988, ‹http://www.jaronlanier.com/vrint.html›, Stand: 07.01.2022.
6 Zitiert nach Barlow: Being in Nothingness, 1990, S. 37.
7 Ebd.
8 Ebd., S. 329, 22.
9 Ebd., S. 125.
10 Vgl. Walker, John: Through the Looking Glass, 1988. Online: ‹https://www.fourmilab.ch/autofile/www/chapter2_69.html›, Stand: 21.04.2021.
11 Autodesk: Is It Live… Or is it Autodesk?, in: Mondo 2000 (1), 1989, S. 17.
12 Jaroslovsky, Rich: So Real You Can’t Touch It, in: Wall Street Journal, 04.03.1991. Online: ‹https://www.wsj.com/articles/ SB920515602313630500›, Stand: 22.04.2021.
13 Barlow, John Perry; Lanier, Jaron: Life in the Datacloud. Interview mit Jaron Lanier, in: Mondo 2000 (2), 1990, S. 49.
14 Walser, Randal: Elements of a Cyberspace Playhouse, in: Helsel, Sandra Kay; Roth, Judith Paris (Hg.): Virtual Reality: Theory, Practice, and Promise, Westport, London 1991, S. 51.
15 Jaroslovsky: So Real You Can’t Touch It, 1991.
16 Barlow: Being in Nothingness, 1990, S. 37.
17 Pimentel, Ken; Teixeira, Kevin: Virtual Reality: Through the New Looking Glass, New York 1993, S. XIV.
18 Barlow: Being in Nothingness, 1990, S. 38.
19 Ebd., S. 43.
20 Sardar, Ziauddin: alt.civilizations.faq: Cyberspace as the darker side of the West, in: Futures 27 (7), 01.09.1995, S. 777.
21 Vgl. Barlow; Lanier: Life in the Datacloud. Interview mit Jaron Lanier, 1990.
22 Nicht zuletzt weil die grosse Mehrheit der frühen VR Forscher, wie auch der amerikanischen Cyberkultur, aus Männern bestand, ist es kein Zufall, dass viele der Virtual Sex Visionen (und Produkte) aus einer männlichen Perspektive gedacht wurden, die an manchen Stellen an pubertäre Incel-Vorstellungen erinnern. Dabei erschien die risikolose Interaktion in der virtuellen Welt als patriarchaler Traum: Je mehr man sich von seinem realen Körper entfernt, desto risikoloser wird das sexuelle Abenteuer und desto mehr verschwinden reale Hindernisse wie Alter, Zerbrechlichkeit und damit einhergehende Verletzbarkeit im männlichen Eroberungswunsch. Allerdings lässt sich der Virtual Sex Diskurs der 90er-Jahre nicht auf diese Perspektive reduzieren, so gab es beispielsweise auch im Cyberfeminismus oder im feministischen Cyberpunk Stimmen, die im virtuellen Sex mit vergleichbaren Argumenten eine emanzipatorische Möglichkeit für die Loslösung von Geschlechternormen erkannten.
23 Vgl. Barlow: Being in Nothingness, 1990, S. 36.
24 Barlow, John Perry: Jack In, Young Pioneer!, 1994. Online: ‹ https://www.eff.org/pages/ jack-young-pioneer ›, Stand: 28.05.2021.
25 Barlow, John Perry: Decrypting the puzzle palace, in: Communications of the ACM 35 (7), 01.07.1992,S.25.
26 Barlow, John P.: Electronic frontier: coming into the country, in: Communications of the ACM 34 (3), 01.03.1991, S. 19.
27 Ebd., S. 20.
28 Rheingold, Howard: Virtual Reality, New York 1991 (A Touchstone book), S. Buchrückseite. Bei Barlow hatte die Kritik zumindest einen realpolitischen Hintergrund. Als 1993 die Regierung von Bill Clinton und Al Gore eingesetzt wurde, mit dessen Mitarbeitenden Barlow und die EFF teilweise in engem Kontakt stand, erhoffte man sich bei der EFF neue Verbündete im Kampf gegen staatliche Eingriffe im Cyberspace. Doch weit gefehlt, führte die neue Regierung eine unter ihrem Vorgänger George Bush erst angedachte aber wieder verworfene Idee ein, Telekommunikationsgeräte mit einer potenziellen Backdoor auszustatten, die von den eigenen Geheimdiensten genutzt werden kann.
29 Schmidt-Jortzig, Edzard: «Der Nationalstaat is überholt.» Interview mit Edzard Schmidt- Jortzig, in: Spiegel, 11.03.1996, S. 104.
30 Ebd., S. 102.
31 Barlow: Jack In, Young Pioneer!, 1994.
32 Rushkoff, Douglas: Most VR Is Total Bullshit, Medium, 27.08.2019, ‹ https://gen.medium. com/most-vr-is-total-bullshit-81a08431df38 ›, Stand: 28.01.2021.
33 Vgl. Leary, Timothy; Gullichsen, Eric: High- tech Paganism – digital Polytheism, in: Real- ity Hackers / High Frontiers (6), 1988, S. 66 – 67, 82–86.
34 Ebd.,S.67.
35 Ebd., S. 82.
36 Ebd., S. 86.
37 Ebd., S. 84.
38 Ebd.
39 Krantz, Michael: He’s the Master Of His Domain Name, in: Time, 06.06.1999. Online: ‹ http://content.time.com/time/magazine/article/ 0,9171,26349,00.html›, Stand: 27.01.2021.

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