Auf Nähe und Distanz
[Abstract:] In einer virtuellen Performance können Zuschauer*innen jederzeit ihre Brille abnehmen und der Situation entfliehen. Doch zugleich zwingt die artifizielle Situation zur ständigen Selbstreflexion. Aus dem Spannungsverhältnis von Nähe und Distanz entsteht ein potenzieller Empathiezuwachs.
Performancekunst ist im Museum des 21. Jahrhunderts nicht mehr wegzudenken. Sie findet in Sammlungssälen und Foyers genauso wie im Aussenbereich ihren Aufführungsort – und neuerdings ereignet sie sich verstärkt auch im virtuellen Ausstellungsraum. Als flüchtige und kaum zu dokumentierende Ausdrucksform gilt sie als Paradefall kritischer Reflektion von musealen Praktiken des Sammelns, Bewahrens und Ausstellens. Überträgt man sie in ein rein virtuelles Ausstellungsformat, gewinnt das in ihr angelegte Potenzial eine gänzlich neue Dynamik. Denn auch wenn das Flüchtige der Performance durch das Konservatorische dieser auf Servern abgelegten artifiziellen und komplexen Datenwelten zunächst in eine institutionelle Logik rücküberführt zu werden scheint, verschiebt sich hier graduell der Fokus auf andere, grundlegende auch die Rolle der Besucher*innen betreffende Fragestellungen. Da diese wiederum die grösste gemeinsame Schnittmenge zwischen dem Ausstellungshaus als solchem und der Performancekunst darstellen, bietet sich ein solches Ausstellungsszenario insbesondere an, um jene Aspekte sozialer Nähe und Distanz im Virtuellen aufzufächern, die jüngst in den pandemisch geprägten Jahren durch Social Distancing besonders an Brisanz gewonnen haben.
Mit Whiteout (19.06. – 10.11.2019), der « weltweit erste[n] Virtual-Reality-Gruppenausstellung zur zeitgenössischen Performancekunst » 1 eröffnet das NRW Forum 2019 eine Ausstellung, an der sich diese spannungsreiche Trias zwischen Performance, Institution und virtueller Sphäre nachempfinden lässt. Die vom Kollektiv New Scenario (Paul Barsch und Tilman Hornig) konzipierte und kuratierte VR-Schau ist dezidiert als digital-explorativer Erweiterungsbau des physischen Museumsraums angelegt; ein Gedanke, der sich in den dort gezeigten Performances fortschreibt. Denn die Künstler*innen Maria Hassabi, VaBene Elikem Fiatsi und Christian Falsnaes loten hierin die Grenzen, aber auch Möglichkeiten mit und in VR aus. Als körper- und handlungsbasierte Kunst, deren affektives Wirkungspotential sich oft aus dem Hier und Jetzt sowie im Zusammentreffen von Publikum und Performer*innen entfaltet, scheint sich Performancekunst innerhalb eines rein virtuellen Ausstellungsortes zunächst schwer mit dem sich immer noch aus den Anfängen von Virtual Reality speisenden gängigen Alltagsverständnis eines eskapistischen, sozial isolierenden Mediums 2 zu vereinen.
Im Sitzen durch die Ausstellung
Am lauen Sommerabend des 17. Juli 2019 versammelten sich zahlreiche Menschen auf der Terrasse des Düsseldorfer NRW Forums. Dass dieser Sommer der letzte vorpandemische sein sollte, an dem sorgloses Beisammensein, die Nähe zu anderen noch kein rares Gut war, ahnte seinerzeit niemand. Die meisten kamen anlässlich der gross angekündigten Retrospektive des britischen Dokumentarfotografen Martin Parr, dessen humorvolle und gleichsam groteske Alltagschroniken in den repräsentativen Räumen des Ausstellungshauses arrangiert waren. Parallel zum Treiben bei Parr eröffnete in der oberen Etage zeitgleich die Virtual-Reality-Ausstellung Whiteout mit vergleichsweise weniger Aufsehen. Aller Nebensächlichkeit zum Trotz sollte doch gerade diese Ausstellung einen in naher Zukunft eintretenden Alltag entlang der Grenzen physischer Nähe und Distanz vorzeichnen.
Dort eintretend bietet im schwarzgetünchten Raum nur der artifizielle Schein der Ultraviolettlicht-Röhren (Abb. 1 ) und die fluoreszierend reflektierenden Oberflächen ein wenig Orientierung. Punktuell leuchtet an den Wänden das arbeitende Innenleben der Computer auf, die ähnlich einem Ausstellungsobjekt hinter Plexiglas präsentiert sind. Der Eintritt in diese tech-ästhetische Rechner-Sphäre erfolgt nur in Begleitung des Museumspersonals, das Besucher*innen zu einem von vier Gaming-Stühlen geleitet. Sitzt man nun in den überaus bequemen Polstern, folgen Erläuterung über die Handhabe der VR-Brillen und Controller sowie darüber, was es in der VR zu erwarten gilt: unendliches Wei. Statt also den Ausstellungsraum zu durchschreiten, navigieren Besucher*innen innerhalb der VR mittels Drehstuhl und Handbedienung, wodurch der Eindruck kontrollierbarer, wenn auch etwas befremdlich wirkender Fortbewegung hervorgerufen wird. So nähert man sich den Arbeiten körperlich-apparativ fixiert qua Fingerzeig. Die Rezeptionsbedingung wird hier folglich von der medialen Vermittlungsform des Interfaces bestimmt, die gleichsam eine interaktive Dimension einführt. Diese Form der « natürlichen Bewegungsvisualisierung » 3 kann gemäss dem auf virtuelle Kunst spezialisierten Kunsthistoriker Oliver Grau bereits als Interaktion gelten, die bei zunehmender Natürlichkeit des Interfaces eine illusionierte Distanzlosigkeit hervorzurufen vermag, obwohl gerade die « Distanzgeste » 4 als zentral für kritische Reflexion gilt.
Während bereits die gedämpfte Lichtszenerie im Ausstellungsraum an eine Notstromversorgung während Blackouts denken lassen, wird die dürftige Orientierung innerhalb des zu erkundenden VR-Ausstellungsraums durch den Wahrnehmungswechsel in ein grell-weisses, konturloses Nichts in der VR noch gesteigert. Schlimmstenfalls verursacht der Übergang das Phänomen der Motion Sickness – eine Differenz zwischen der visuell wahrgenommenen Bewegung und der eigenen Körperwahrnehmung im Raum (Propriozeption) – wodurch der Gleichgewichtssinn irritiert wird. Denn der eigene Körper ist in der VR abwesend; er wird weder durch einen Avatar noch durch partielle Körperteile, wie etwa Hände, repräsentiert. Im starken Kontrast dazu stehen die drei sehr körperbezogenen Performances der Künstler*innen. Jede Performance hat paradoxerweise im unendlichen Weiss ihren eigenen Austragungsort, weshalb sie zugleich zum einzigen Orientierungsangebot für die Besucher*innen innerhalb der VR werden. Über die Controller ansteuerbar können die Zuschauer*innen so in ihre illusionierte Nähe rücken. Anders als bei präsentisch durchgeführten, ko-leiblich erfahrenen Performances im Realraum, die eine zwischenmenschliche Interaktion und damit auch eine beziehungs- und bedeutungsstiftende Nähe zwischen Künstler*in und Publikum ermöglichen (und sei es ‹ nur › das Zusammentreffen von Blicken), scheint ein solcher sozialer Moment in der VR ausgehebelt zu sein. Schon das sonst kollektive Kunsterlebnis im von den Besucher*innen geteilten Realraum wird durch den ausschliesslich via Datenbrille zu betretenden VR-Raum vereinzelt, intim und Ich-erlebnisintensiviert. Die Performance im technoiden White Void präsentiert sich also quasi-exklusiv: Die Zuschauer*innen sind hier nie zu spät, es entsteht kein Gerangel um die beste Sicht und niemand kommt in die ethische Bedrängnis, sich zu fragen, ob es nun eines Eingriffes in die Performance bedürfe, weil der*die Künstler*in seine*ihre körperlichen Grenzen ausreizt. Denn es handelt sich um ins Virtuelle überführte Performances; das heisst virtualisierte Performances, deren realer Austragungsort und -zeitpunkt nicht deckungsgleich mit dem gezeigten Geschehen sind. Damit nehmen die VR-Performances als in sich abgeschlossene, von aussen nicht mehr beeinflussbare, loop-artige Darbietungen die von der Kunsthistorikerin Claire Bishop in aktueller Performancekunst beobachtete Tendenz einer konzeptuellen Anpassung an die musealen Zeitstrukturen und Publikumsgewohnheiten eines Kommens und Gehens im Unterschied zur Black Box des Theaters auf.5
Immersion auf Abstand
Alle drei Performances fanden in einem hell erleuchteten Studioraum mit Hohlkehle vor einem Team samt technischer Apparatur statt und antizipieren höchstens das Ausstellungspublikum über die Kamera, welche das Geschehen im Radius von 180° aufnimmt. Diese spezielle Aufnahmetechnik ermöglicht, in der späteren VR-Nutzung die eigene Sichtposition entlang eines Halbkreises frei zu wählen, wobei das Nähe / Distanz-Verhältnis durch die gleichbleibende Entfernung der Kamera bestimmt ist und die Besucher*innen etwa auf geschätzte 1,5 m Abstand hält. Entsprechend finden sich die Rezipient*innen hier nicht inmitten eines Rundumerlebnisses, sondern in einer weitestgehend frontalen Guckkastenperspektive platziert, wie sie lange im Theaterkontext vorherrschte und den Bühnenraum (samt alledem was sich auf ihr abspielte) vom Publikumsbereich als zwei getrennte Sphären behandelte. Der Eindruck von Distanz verschärft sich zusätzlich durch den sogenannten Fliegengitter-Effekt, der sich durch ein farbiges Pixelraster im gesamten Sichtfeld bemerkbar macht. Dadurch ist immersives Eintauchen nicht nur erschwert, sondern zugleich als visuelle Illusion entlarvt. Das visuelle Artefakt der Displayauflösung entzaubert regelrecht die Vorstellung von VR als technologisches Medium der völligen Immersion, indem es die (bild)mediale Herstellung und ihre Projektionsfläche regelrecht vor Augen führt. Was in manchen Fällen der Medienkunst gern als medienreflexive Geste genutzt wird (beispielsweise der Display, der sich selbst als solcher zu erkennen gibt), ist hier jedoch nicht als künstlerisches oder kuratorisches Mittel zu verstehen. Vielmehr handelt es sich um die technische Unausgereiftheit der verwendeten VR-Brillen,6 die eine Wahrnehmungstoleranz der VR-Rezipient*innen einfordern. Zugunsten einer illusorisch-immersiven Erfahrung antizipieren Nutzer*innen den Soll-Zustand, gleichen etwa Leerstellen oder Fehler aus und gehen in rezeptive Vorleistung für eine derzeit noch ausstehende technische Leistung.
Will VR (und im übrigen Performancekunst ebenso) gerade mit dieser Aussenposition der Betrachter*innen mittels Immersion brechen, scheint hier der Versuch einer Einbeziehung und Herstellung eines Näheverhältnisses durch die datenbrillengesteuerte Rezeption eher in die Akzentuierung von Distanz, von Grenzen der Teilhabe und der medialen Mittelbarkeit umzuschlagen. Dieser Umschlag kollidiert mit den Performances, was unweigerlich ein Spannungsverhältnis aufbaut. Die drei Künstler*innen reagieren in unterschiedlichem Grade auf diese stark veränderte Ausgangssituation. Während zwei der virtualisierten Arbeiten – Staged? (2016 / 2019) von Maria Hassabi und wouNded-wouNd (2018 / 2019) von Va-Bene Elikem Fiatsi [crazinisT artisT] – bereits vor Publikum aufgeführt und für Whiteout im sterilen Studiosetting vor dem Technik-Team re-interpretiert wurden, entwickelt Christian Falsnaes mit Studio (2019) eine neue Performance, die sich an den spezifischen Gegebenheiten des virtuellen Raums ausrichtet.
Gegengeste des Unspektakulären
Im Unterschied zu den New Yorker Räumen von The Kitchen, wo Staged? erstmals 2016 auf einem pinken Teppich, unter dem warmen Lichtkegel eines Scheinwerfermeers, inmitten der sonst abgedunkelten Szene lang inszeniert wurde, treten die vier Performer*innen im gleichmässig ausgeleuchteten, steril wirkenden und fast schattenlosen Whiteout, völlig neu in Erscheinung (Abb. 2).7
Maria Hassabi konzipierte Staged? und Staging (2017) als zwei Teile eines performativen Diptychons, das die Expositionskonventionen des Theaters und Ausstellungsapparates befragt und hierin das Verhältnis zwischen Publikum, Performer*innen, Raum und Zeit auslotet. Während Staged? für den Theaterraum entwickelt wurde und die Frage nach einer finiten choreographierten Form mit Anfang und Ende aufwirft, verschiebt sich mit Staging der Fokus auf den reaktiven Prozess der Formwerdung im Modus des Loops im Ausstellungsraum. Neben der jeweiligen Reflektion ihrer Präsentationsdispositive ist beiden Arbeiten die konstante Re-Konfiguration der Performer*innenkörper gemein, die wegen ihrer extrem verlangsamten und dadurch passiv wirkenden Bewegungen wie lebend(ig)e Skulpturen oder Bilder anmuten. In den mal vereinzelnden, mal zusammenführenden Ein- und Entfaltungen der Performer*innen verliert sich schnell der Blick für den menschlichen Einzelkörper. Auch dank der farbintensiven, gemusterten Kostüme verschwimmen zunehmend die Körpergrenzen und verdichten die vier Performer*innen zu einer amorphen, artifiziellen Gestalt, die mit ihrem Untergrund zu verschmelzen scheint.
Das Fragezeichen im Titel von Staged? ist doppeldeutig: Es rekurriert zum einen auf die gestalterische In-Szene-Setzung (Raum, Lichtsetzung, Kostüme etc.) und zum anderen auf den Inszenierungsgrad der Körperbewegungen, die gleichsam kinematographische Rekurse an das Standbild oder Slow Motion aufrufen und damit indirekt auf die Aufnahmesituation im Studio verweisen. Während gerade Lichtspots und Kostüme konventionelle Strategien des Theaters um Erwartungen des Spektakels generieren, bricht die Performance mit ihnen, indem sie mit verlangsamten, fast regungslosen Bewegungen entgegnet. Zwar existieren in der VR-Version von Staged? keine Scheinwerfer und eine Bühne ist als solche im unendlichen Weiss auch nicht auszumachen, und doch funktioniert die Performance weiterhin als eine Art Gegengeste. Denn vor allem VR als Präsentationsdispositiv (von Kunst) ist seitens der User*innen oft vom Wunsch nach spektakulärer Erlebnishaftigkeit durchzogen, dem hier ein Zeichen des entschleunigt Unspektakulären entgegengesetzt wird.
Unbehaglicher Voyeurismus im Virtuellen
Die Arbeit wouNded-wouNd, der Performance- und Installationskünstlerin Va-Bene Elikem Fiatsi (‹ sHit if not She ›) 8 [crazinisT artisT] wendet sich im Unterschied zu Hassabi nicht der Formalisierung oder Abstraktion von Körper(n) zu, sondern nutzt ihren eigenen, geschlechterfluiden Körper als Aushandlungsfläche von genderbasierter, sexualisierter Gewalt, Ausgrenzung und Vulnerabilität.
Wenn Fiatsi in roten Plüschheels und fliessendem Gewand auf die ausgeleuchte Szene tritt, beginnt sie sich Schicht um Schicht vor dem Publikum in der abgedunkelten Amsterdamer Veranstaltungshalle zu entkleiden.9 Ihre Enthüllung wird begleitet von der Aufdeckung einer Toilette. Davor kniend taucht sie anschliessend ihren Kopf samt ihrer langen Braids in eine braune, zähe Flüssigkeit hinein und zieht mit ihren Zähnen weibliche Unterwäsche aus dem fäkalienähnlichen Morast hervor. Ritualhaft wiederholt sie den Vorgang unzählige Male, wobei sie das ständige Untertauchen und Luftanhalten zunehmend anstrengt: ihr Körper beginnt zu zittern, sie ringt qualvoll nach Luft und ist bed(r)eckt mit braunen Rinnsalen.
Obwohl der Performanceverlauf in der VR weitestgehend gleich ist, ist das Aktionsfeld in der realräumlich performten Version schon vor dem Auftritt der Künstlerin von den Besucher*innen umringt. Mit der zu Beginn einsetzenden Entkleidung tritt die Künstlerin auch mit dem Publikum in Interaktion: Sie übergibt Teile ihrer Kleidung in die Hände der Zuschauenden bis sie nackt den Blick auf ihren meist männlich gelesenen Körper preisgibt. In Whiteout ist die Künstlerin jedoch allein (Abb. 3). Das rote Tuch mit bereits enthüllter Toilette markiert hier ihren Aktionsraum im sonst so steril wirkenden weissen Nichts. Auch die stückweise Entkleidung und das Hinabtauchen und Hervorholen der Unterwäsche mit dem Mund der zähflüssig gefüllten Toilette passiert ohne Publikum. Während die Selbstpein der Amsterdamer Performance sich in der betroffenen Stille der Umherstehenden ausdrückte, die sich kaum zu klatschen trauen, als sie von einem weissen, fast nackten Mann pietàgleich aus der beleuchteten Szene getragen wurde, scheint eine derartige publikumsseitige Empathie verunmöglicht zu sein.
Mit wouNded-wouNd betont Fiatsi einen potenziell verletzenden Akt für nicht-binäre Personen: den Prozess der Entkleidung und den der Sichtbarmachung von Geschlechtsteilen, mit denen sie sich womöglich nicht identifizieren. Im Raum mit Publikum ist damit ein heteronormativ codierter Blick auf ihren Körper freigelegt, welcher wieder in der performativ hergestellten Verletzbarkeit gegen sich selbst gewendet wird und eine Selbstreflexivität der Schauenden anregt. Zwar müssen im Whiteout publikumseinbindende Gesten entfallen (etwa die direkte Blickadressierung oder die Übergabe ausgezogener Kleidung) und doch büsst die Performance im VR-Dispositiv ihr affizierendes Potential nicht ein. Vielmehr scheint sich dieses zu verschieben und andere Affizierungsformen hervorzurufen: Während Performancebesucher*innen als Teil einer zuschauenden Menge ihren eigenen Voyeurismus durch die Gemeinschaft legitimieren, intensiviert die VR durch das isolierte Schauen das Unbehagen der blickenden aber vom performenden Gegenüber nicht wahrgenommenen Position. Daher scheint die eigene Körperlosigkeit paradoxerweise die Verletzlichkeit des Künstlerinnenkörpers zu betonen und Empathie zu erwecken. Ähnlich zu den teils selbstverletzenden Aktionen der Body-Art der 1970er Jahre, arbeitet auch wouNded-wouNd mit dem Unbehagen der Zuschauer*innen, insbesondere wenn die röchelnden Geräusche den gequälten Körper zur Schau stellen. Indem die Zuschauer*innen in der VR als ungesehene Voyeur*innen in den intimen Raum treten, vermag auf diese Weise das Mitansehen der Selbstpein eine andere Qualität von Empathie hervorkehren, eine, die eher über die Selbstreflexion der eigenen, medialisierten Schauposition verhandelt wird, statt über das uneingelöste Versprechen immersiver Ko-Präsenz. Zentraler, unleugbarer Unterschied ist, dass es den Zuschauer*innen mit der Abnahme der VR-Brille vergleichsweise leichter gemacht wird, sich der Situation zu entziehen.
Doppelrolle im Virtuellen
Jene medialisierte Schauposition des Publikums nimmt Christian Falsnaes virtualisierte Performance Studio als Ausgangspunkt (Abb. 4). Beruht seine künstlerische Praxis grundsätzlich auf der Nähe zu seinem Publikum, um es über Instruktionen zu teils absurden Handlungen bewegen zu können, es also als formbares (Körper)Material seiner Performances zu nutzen, ist dies in und mit VR kaum realisierbar. Deshalb entschied sich Falsnaes im Unterschied zu Hassabi und Fiatsi eine ‹ orts ›-spezifische Arbeit für Whiteout zu entwickeln, die die medialen Entstehungsbedingungen der Performance und gleichsam die Grenzen des Virtuellen thematisch macht. Allein der Titel Studio verweist auf die Aufnahmesituation, von der bereits eingangs die Rede war und die in der Performance gedoppelt ist. Denn Falsnaes ist hier selbst ausführende Person, die den Instruktionen von Minni Mertens, einer professionellen Schauspielerin, vor laufender Kamera folgt. Umgekehrt verfolgen die VR-Nutzer*innen eine Video-Produktion hinter den Kulissen und schauen zu, wie Falsnaes von Mertens in drängend-restriktivem Imperativ zu zunehmend entwürdigenden Handlungen animiert wird. Die Situation erscheint zunächst in ihrer Ähnlichkeit zu Shooting-Szenarios nicht ungewöhnlich, nimmt aber mit jeder neuen Anweisung und Falsnaes unterhinterfragter Durchführung an unaushaltbarer Groteske zu: Während Mertens ihn eingangs zum intensiven Schütteln seiner Gliedmassen und zum durchgängigen Schreien auffordert, ihn im militärischen Drill trotz körperlicher und stimmlicher Ermüdung anspornt fortzufahren, drapiert sie den mittlerweile nackten Falsnaes puppenartig in demütigen Posen für die Kamera. Die Zuschauer*innen nehmen in Studio zwei kollidierende Rollen ein: Zum einen werden sie durch das medienreflexive Setting (ähnlich wie bei wouNded-wouNd ) zu Voyeur*innen, die aus dem Off zuschauen. Zum anderen sind sie ganz offensichtlich die einzigen Adressat*innen der Aufführung, diejenigen, für die Falsnaes diese Demütigungen auf sich nimmt und diejenigen, die ihn durch das Auge der Kamera beobachten (wenngleich nicht frontal, sondern von der Seite). Falsnaes versetzt die VR-Nutzer*innen in die Position der nicht-teilhabenden Schauenden, überträgt ihnen performancetypisch gleichsam eine Mitverantwortung für die Situation und kehrt damit eine VR vorgeworfene Schau- und Spektakellust gegen sie selbst.
In der Isolation verbunden
Das Verhandeln von Nähe und Distanz ist sowohl im White Cube – einer von Brian O’Doherty in den 1970er Jahren theoretisierten weissen, neutralen Zelle, welche bis heute noch die gängigste Präsentationsform für Kunstwerke ist – als auch in der Performancekunst grundlegend verankert. Die durch die sakral anmutende Autorität des weissen Raums gebotene ästhetische Distanz zu den Exponaten ist durch das Publikum sowie das markierte Aktionsfeld auch der performativen Darbietung anheim. Wird beides jedoch in eine virtuelle Anwandlung des White Cube verlagert, wie es in der Düsseldorfer Schau zu sehen ist, verschieben sich hierdurch auch die produktions- und rezeptionsästhetischen Kategorien. Anders als bei kopräsentisch erfahrenen Performances, deren Herstellungsprozess gleichsam ihr Expositionsmoment ist, und auch im Unterschied zu telematischen Performances, die verteilte Körper virtuell verbinden, fallen bei den virtualisierten Performances Produktion und Rezeption (zumindest im virtuellen) Ausstellungsraum auseinander. Dabei ist die VR als Medium der Hervorbringung und gleichzeitig als Austragungsort in den performativen Arbeiten nicht nur thematisiert, sondern auch problematisiert, wodurch innerhalb der überschaubaren Ausstellung jedoch ganz grundlegende, die virtuelle Sphäre betreffende Fragen nach Publikumsteilhabe, Affektivität und Unmittelbarkeit aufgeworfen werden. Die Rolle des Zuschauenden gerät dadurch in Whiteout besonders in den Fokus. Einen nicht unwesentlichen Anteil daran hat allein schon die körperlose Repräsentation des Publikums innerhalb der VR, die Sita Popat Taylor als Intensivierung eigenkörperlicher Präsenz beschreibt: « The absence of visual engagement with my body when it would normally be visible draws attention to its subjective presence in relation to the virtual space ».10 So ergibt sich hier entlang der körperlichen Abwesenheit und der virtuellen Präsenz der Künstler*innen ein wechselseitiges Spannungsverhältnis, das immer wieder die blinden Flecken markiert, das aber auch auf die Distanz und Nähe, und nicht zuletzt auf die Interferenz von Selbstwirksamkeit und Wirkungslosigkeit, Ermächtigung und Entmachtung innerhalb der virtuellen Sphäre verweist. Denn durch das Wissen um den reinen, quasi replikförmigen, digitalen Zustand der Performance werden institutions-autoritäre Grenzen Seitens der Besucher*innen hinterfragt, weil man sich zum einen in der Gewissheit wägt, nicht gesehen zu werden und zum anderen das eigene Handeln keinen Effekt auf die Performance hat.
Wenn das Museum hier nicht mehr als physischer Ort der kollektiven Erfahrung konstituiert wird, welche Rückschlüsse lassen sich daraus für eine institutionell-intendierte Erweiterung, also dem ‹ virtual outreach › des NRW Forums herausziehen? Museen haben grundsätzlich das Potenzial, relevante Orte für soziokulturellen Wandel innerhalb der Gesellschaft zu sein. Im Kontext einer aktuell zunehmenden Virtualisierungstendenz muss auch die Rolle des Museums neu justiert werden, liegt doch gerade der komplexen Binnen- und Verweisstrukturen solcher Institutionen als Speicher- und Vermittlungssysteme eine Logik des Virtuellen bereits zugrunde.11 Nicht umsonst behandeln viele jüngst erschienenen wissenschaftlich-museologische Publikationen sowie Veranstaltungsreihen und Symposien die künftigen Herausforderungen, die sich durch die digitale Transformation ergeben. Vor diesem Hintergrund greift die Ausstellung Whiteout das Spannungsverhältnis von Nähe und Distanz nicht nur auf, sondern lotet es auf die Ebene der hier besprochenen, virtualisierten Performances verschiedentlich aus.
1 | Selbstbeschreibung auf der Website des NRW Forums: https://www.nrw-forum.de/ausstellungen/whiteout, Stand: 15.02.2022. |
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2 | Vgl. Kasprowicz, Dawid; Rieger, Stefan: Einleitung, in: Handbuch Virtualität, Wiesbaden 2020, S.2–19. |
3 | Grau, Oliver: Virtuelle Kunst in Geschichte und Gegenwart. Visuelle Strategien, Berlin 2002, S. 172. |
4 | Ebd., S. 183. |
5 | Bishop, Claire: Black Box, White Cube, Gray Zone: Dance Exhibitions and Audience Attention, in: The Drama Review, 62 (2), 2018, S.22–42. |
6 | Selbst Alain Bieber, Leiter des NRW Forums, moniert die Qualität des VR-Bildes. Vgl. Backhaus, Peter: Virtuelle Performance-Schau Whiteout. Das Nichts als Erfahrung, Corso, Deutschlandfunk, 18.07.2019, https://www.deutsch landfunk.de/virtuelle-performance-schau-whiteout-das-nichts-als-100.html, Stand: 21.02.2022. |
7 | Im Rahmen des Crossing The Line Festivals fand die Premiere von Staged? (zu dem Zeitpunkt noch ohne Fragezeichen im Titel) am 04.10.2016 in der gemeinnützigen Institution The Kitchen in New York City statt. |
8 | Auf der Website und Instagram-Page von Fiatsi heisst es «‹sHit› if not ‹she›» und auf der Seite des NRW Forums wird sie wie folgt zitiert «[sHe/it…] is my bio-political pronoun but simply call me [sHit]; if you can not deal with your own confusions». https://www.crazini startist.com/biography/, https://www.nrw-forum. de/en/exhibitions/whiteout, Stand: 23.02.2022. Im Text wird im Folgenden das weibliche Pronomen ‹sie› verwendet. |
9 | Fiatsi performt wouNded-wouNd erstmals im Rahmen des multidisziplinären Festivals Lost & Found 2018 in Amsterdam. Die Beschreibung dieser Performance basiert auf einer filmischen Dokumentation, die hier eingesehen werden kann: https://vimeo.com/255491375, Stand: 18.02.2022. |
10 | Popat Taylor, Sita: Virtually Touching: Embodied Engagement in Telematic and Virtual Reality Performance, in: Butterworth, Jo; Wildschut, Liesbeth (Hg.): Contemporary Choreography. A Critical Reader, London 2018. Online veröffentlichter Abdruck: https://eprints.whiterose.ac.uk/125649/1/Popat%20Virtual ly%20Touching.pdf, Stand: 21.02.2022. |
11 | Vgl. Niewerth, Dennis: Dinge – Nutzer – Netze: Von der Virtualisierung des Musealen zur Musealisierung des Virtuellen, Bielefeld 2018, S. 397. |