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Büroschätze statt Haushaltsmüll

Elektroschrott-Recycling in Bolivien

[Abstract] Ausgedientes Büromaterial aus Bolivien wird containerweise nach Belgien verfrachtet. Ein Hintergrundbericht über die Gründe, warum Urban Mining in einer Welt, in der Ressourcen ungleich verteilt sind und selbst ökologische Initiativen lukrativ sein müssen, Gefahr läuft, die Verhältnisse unangetastet zu belassen.

In diesem Artikel analysiere ich eine international finanzierte Initiative zur Förderung von Elektroschrott-Recycling in La Paz, Bolivien. Ich interessiere mich insbesondere für die Schaffung globaler Wertschöpfungsketten aus lokalem Elektroschrott.1 Ich zeige, dass das E-Waste-Programm es einigen wenigen Unternehmen ermöglicht, die ‹ Schätze › des Elektroschrotts herauszufiltern, nämlich die Leiterplatten von PCs, Laptops und Smartphones. Die häufig benutzte Bezeichnung minería urbana (Urban Mining) ist Ausdruck einer solchen ‹ Rosinenpickerei ›-Strategie. Urban Mining in Bolivien konzentriert sich auf einige wenige elektronische Geräte, insbesondere aus dem Bereich IKT (Informations- und Kommunikationstechnologie), während der gängige elektronische Haushaltsmüll (Küchengeräte, alte Unterhaltungselektronik) vernachlässigt wird. Ich untersuche, wie eine neue Abfallregulation, also die rechtliche und institutionelle Ausgestaltung der Müllwirtschaft, die Schaffung transnationaler Müllströme befördert. Denn umweltpolitische Massnahmen blockieren Handel nicht per se, sondern leiten ihn vielmehr um und ermöglichen « das Entstehen neuer Märkte ».2, 3 Und diese haben, wie in dem hier analysierten Fall, fragliche umweltpolitische und sozioökonomische Folgen.4

Elektroaltgeräte sind nicht nur potenziell gesundheits- und umweltschädlicher als andere entsorgte Konsumgüter, auch haben die darin enthaltenen Seltenen Erden und Edelmetalle einen hohen Weltmarktpreis, während technologische Innovationen und verschiedene Formen geplanter Obsoleszenz in den Bereichen Unterhaltungselektronik und IKT besonders ausgeprägt sind. Kurz gesagt: Es entsteht weltweit sehr viel Elektroschrott und dieser ist besonders giftig und wertvoll. Dabei sind die Anteile von « Gefahr » und « Ressource »,5 also die toxischen Materialien und solche mit hohem Wiederverwertungspotential, ungleich auf verschiedene Produkte und Bauteile verteilt.6 Elektronische Geräte sind multimaterielle Produkte, Kompositionen aus Teilen, Metallen und Substanzen, von denen einige höchstgefährlich für Gesundheit und Umwelt sind, während andere wie Gold, Silber, Kupfer, Platin und Palladium knappe Primärressourcen darstellen. Die in diesem Artikel analysierte sowohl diskursive als auch praktische Verlagerung vom Recycling zum Urban Mining, dessen Weltmarkt- und Wertschöpfungsorientierung in einem Land wie Bolivien, das historisch von höchst ausbeuterischem Ressourcenabbau im Bergbau geprägt wurde, besonders attraktiv zu sein scheint, basiert auf diesem Umstand, nämlich dass Elektronikschrott sich nur schwer klassifizieren lässt und in diesem Sinne « unbestimmt » und unbestimmbar ist.7

Von Recycling zu Urban Mining

Urban Mining ist sowohl in politischen als auch in akademischen Kreisen als « Prozess der Rückgewinnung von Materialien und Komponenten aus Produkten, Gebäuden und weggeworfenen Abfällen »,8 also anthropogenem Material städtischer Haushalte und Infrastrukturen bekannt geworden. Dieses breite Verständnis des Begriffs ist zwar nicht völlig neu – Diskurse über Urban Mining kamen periodisch während kriegerischer Auseinandersetzungen oder anderweitig verursachter Ressourcenknappheiten auf –, neu ist jedoch, dass der Begriff in seiner wörtlichen Bedeutung als Synonym oder Kurzform für « oberirdische Erze » und « oberirdischen Bergbau » von Edelmetallen und Seltenen Erden verwendet wird.9 Multinationale Konzerne verwenden den Begriff, wenn es um die Ausweitung ihrer Lieferketten auf recycelte Metalle geht. Auch die Mitarbeiter*innen des untersuchten kleinen Recyclingunternehmens in La Paz fühlte sich vom volks- und betriebswirtschaftlichen Potential von Urban Mining angezogen. Der Marketingmanager zitierte in unserem Gespräch energisch Expertenmeinungen, wonach es « weltweit dreimal mehr Gold in den Städten als im traditionellen Bergbau » gibt.

Der Begriff des Urban Mining (minería urbana) trifft in Bolivien auf besonders viel Resonanz, da das Land seit der Erschliessung der Silbervorkommen des Cerro Rico von Potosí durch die Spanier Mitte des 16. Jahrhunderts vom Bergbau und dem Export von Metallen, insbesondere Silber, Zinn und Gold, abhängig ist. Die bolivianische Regierung unter Präsident Evo Morales verfolgte 2016 und 2017 ein nunmehr auf Eis gelegtes Grossprojekt: den Bau einer staatlichen Recyclinganlage für Edelmetalle. Dies sollte die neokoloniale Ausbeutung der Reichtümer des Landes und die abhängige Weltmarktposition Boliviens als Exporteur von Rohstoffen umkehren. Zum ersten Mal in der Geschichte sollten Edelmetallströme in das Land fliessen und die Wertschöpfung inländisch stattfinden.

Elektroschrott in Lateinamerika und Bolivien

Die Haushalte in Lateinamerika produzieren vergleichsweise wenig Elektroschrott und es kommen in der Region kaum ausländische Altgeräte an. Dennoch haben die internationale Recycling-Agenda und multilaterale Finanzierungsprogramme auch diese Region erreicht. Verschiedene internationale Institutionen sowie regionale Verbünde von staatlichen und nichtstaatliche Organisationen befassen sich seit Anfang der 2000er Jahre mit den Themen urbane Abfallwirtschaft, Kreislaufwirtschaft und Elektroschrott, insbesondere die Regionale Plattform für elektronische Rückstände in Lateinamerika und der Karibik (RELAC auf Spanisch), eine der frühesten und aktivsten Gruppen in diesem Bereich.10 Weitere Institutionen sind die Wirtschaftskommission der Vereinten Nationen für Lateinamerika und die Karibik (CEPAL), die WHO und die Panamerikanische Gesundheitsorganisation (OPS) sowie der regionale Zweig der UN-Organisation für industrielle Entwicklung. Die ersten Länder, die nationale Gesetze zum Recycling von Elektroschrott erlassen haben, waren Mexiko, Costa Rica, Kolumbien, Brasilien, Chile, Ecuador und Peru.11 Diese Länder sind auch Vorreiter bei der Umsetzung sogenannter « umfassender städtischer Abfallwirtschaftssysteme » (Sistemas Integrales de Gestión de Residuos),12 die manchmal Elektroschrott als einen besonderen Regelungsbereich umfassen.

In Bolivien wurde das Elektroschrott-Recycling erstmals 2008 und 2009 von der deutschen GIZ (Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit) und der Schweizer Swiss Contact (Stiftung für technische Zusammenarbeit) aufgegriffen. Sie initiierten einen Runden Tisch in La Paz und gaben eine Studie zum nationalen Elektroschrottaufkommen in Auftrag. Danach zog sich die GIZ aus dem Projekt zurück und Swiss Contact richtete ihre Prioritäten auf andere Recycling-Materialien, sodass Elektroschrott-Recycling erst ein Jahrzehnt später, im Jahr 2017, wieder auf der Tagesordnung stand. Die Stiftung von VIVA, eines der drei grossen, in Bolivien tätigen Telekommunikationsunternehmen und die Interamerikanische Entwicklungsbank förderten ein E-Waste Rücknahmesystem in Zusammenarbeit mit der Stadtverwaltung von La Paz. Das Projekt lief drei Jahre (2017 – 2020). Während sich die früheren Initiativen auf La Paz konzentriert hatten, sollte diese als Sprungbrett für eine effektive nationale Regulierung und den landesweiten Aufbau von Verwaltungskapazitäten dienen. Konkrete Ziele des Projekts waren die Förderung von öffentlich-privaten Allianzen, die Information und Aufklärung der Bevölkerung über die Gefahren von Elektroschrott, der Aufbau von formellen Recyclingunternehmen und eines formalen Lizenzierungssystems für die E-Waste-Entsorgung. In diesem Beitrag konzentriere ich mich auf die beiden letzteren Aufgabenfelder.

Zertifizierung von formellen Entsorgern

Dieses Projekt muss im Zusammenhang mit anderen Programmen dieser Art in der Region gesehen werden. Tatsächlich wird in Bolivien das « Modell Costa Rica » als lateinamerikanisches « Best-Practice-Beispiel » aufgeführt. Die Leiterin der Koordinierungsstelle des bolivianischen Projektes hob in unserem Interview die zertifizierte Kontrolle der Umweltstandards und die Durchsetzung der erweiterten Herstellerverantwortung (Extended Producer Responsibility EPR; auf Spanisch Responsabilidad Extendida del Productor, REP) hervor. Costa Rica ist als das erste Land in der Region bekannt, das « Compliance Units » eingeführt hat, die die korrekte Demontage und Entsorgung von Elektronikschrott überwachen. Das Projektbüro in La Paz fördert ähnliche Kontrollmechanismen. Es organisiert Besuche bei den Recyclern und stellt « grüne Zertifikate » (certificados verde) an diejenigen aus, die die Sicherheits- und Umweltnormen bei der Sammlung und Zerlegung von Elektro- und Elektronik-Altgeräten einhalten. Die Stelle wendet sich auch an informelle Werkstätten, ohne dass jedoch greifbare Ergebnisse erzielt oder gezielt die Initiative ergriffen worden wäre, deren Arbeits- und Umweltstandards zu verbessern. Laut der Projektkoordinatorin verliefen die gelegentlichen Besuche in diesen Werkstätten äusserst unbefriedigend, da mangelnde Schutzvorkommen mit Uneinsichtigkeit auf Seiten der Arbeiter*innen einhergehen würden. Diese negative Wahrnehmung und die praktischen Schwierigkeiten bei der Kontaktaufnahme mit informellen Recyclingbetrieben sind Ausdruck der stadträumlichen, soziopolitischen und kulturellen Distanz zwischen den Unternehmenssektoren von La Paz und der ‹ populären Ökonomie ›13. 14

Während man Akteur*innen der populären Ökonomie weitgehend ignorierte, wurden neue, sowohl profitorientierte als auch Non-profit-Initiativen gefördert, nicht alle erfolgreich. In La Paz war während meiner Forschung das kleine Unternehmen Recicla aus der elitären Südstadt der einzige offizielle Elektroschrott-Betrieb. 2018 hatte es elf Mitarbeiter*innen, fünf in der Demontageanlage und sechs in den Bereichen Verwaltung, Kommunikation und Management.

Globale Wertschöpfungsketten

Was macht nun Recicla genau? Es sammelt und kauft, sortiert und zerlegt Elektroaltgeräte, um dann diverse Einzelteile und Materialien weiterzuverkaufen beziehungsweise zur Entsorgung zu exportieren. In unseren Interviews und Gesprächen haben die Firmengründer auf verschiedene Herausforderungen hingewiesen, die mit ihrer Arbeit verbunden sind. Eine der betriebswirtschaftlich wichtigsten Aspekte war es, « Quellen » und « Kanäle » zu identifizieren. Wie bei einem Handelsunternehmen hing ihr Unternehmenserfolg davon ab, Verkäufer*innen und Käufer*innen zu finden. Recicla stand vor einem zentralen Dilemma: Die lokalen Inputs waren knapp und unregelmässig, während die internationalen Käufer*innen grosse Mengen forderten. Im September 2016, zum Zeitpunkt unseres ersten Interviews, sammelte das Unternehmen immer noch Kunststoffe, um ihren ersten 16-Tonnen-Container zu füllen und nach Übersee zu schicken. Ebenso hatte das Unternehmen mehr als zwei Jahre gebraucht, bis es genügend Leiterplatten gesammelt hatte, um einen ersten Container zum belgischen Unternehmen Umicore zu verschiffen. Zu diesem Aspekt von Kauf und Verkauf kam noch hinzu, dass eine besondere Mischfinanzierung nötig war, um mit dem umweltpolitisch erwünschten Elektroschrottrecycling Geld zu verdienen. Denn Recicla musste für den Export von Kunststoffen, Glas und Batterien draufzahlen. Aluminium, Kupfer und Stahl fanden regionale Käufer*innen und nur Leiterplatten versprachen wirklich ordentliche Einnahmen. Dazu mussten diese exportiert und viele Tausend Kilometer weit bis nach Belgien gesendet werden.

Da diverse, vom E-Waste-Programm finanzierte Kampagnen, zur Sammlung von Haushaltsgeräten nicht genügend dieser lukrativen Bauteile geliefert hatten, kaufte das Unternehmen Leiterplatten von informellen Recyclern hinzu. Ausserdem konzentrierte sich das Unternehmen in den folgenden Jahren auf eine andere Quelle, die grössere und stabilere Ressourcen zu bieten versprach: digitale Geräte von Unternehmen, staatlichen Stellen und den multinationalen Elektronikherstellern selbst.

Von Haushaltsmüll zu ‹ Büroschätzen ›

Die Neuausrichtung der Firma auf die Gewinnung von « Elektroschätzen » muss in einem grösseren Zusammenhang gesehen werden. In der bolivianischen, sowie vielen weiteren nationalen Gesetzgebungen haben entsorgte elektronische Geräte einen uneindeutigen administrativ-rechtlichen Status, der zwischen Hausmüll (in der Zuständigkeit der lokalen Verwaltung), Sperrmüll (in der Zuständigkeit der Regionalregierung) und Giftmüll (eine nationale Aufgabe) liegt.15 Dies erschwert die Aufteilung der Zuständigkeiten zwischen der lokalen, der subnationalen und der nationalen Ebene (umso mehr, als diese von unterschiedlichen politischen Parteien kontrolliert werden). Recicla hatte von der Stadtverwaltung von La Paz feste Zahlungen für die Annahme von Elektroschrott gefordert, aber die lokale Verwaltung war nicht bereit, ihnen eine regelmässige Vergütung für ihre Dienste zu garantieren. Ausserdem behinderten politische Rivalitäten eine zuverlässige öffentliche Unterstützung.

All dies veranlasste Recicla, veraltete IKT-Geräte von privaten Unternehmen und der staatlichen Verwaltung anstelle von Haushaltswaren zu sammeln und mit multinationalen Herstellern an der Rückverfolgbarkeit von Elektroschrottströmen zu arbeiten. Eines der greifbaren Ergebnisse der E-Waste-Initiative bildete in dieser Hinsicht die Verabschiedung einer Leitlinie für die Freigabe und den Verkauf alter digitaler Geräte, auch wenn es sich um öffentliches bzw. Unternehmenseigentum handelte. Im Februar und März 2020 erhielt Recicla eine grosse Ladung von PCs aus den Büros der VIVA Corporation und ihrer Stiftung und verhandelte mit privaten Universitäten über Lieferungen. Mit dem « grünen Zertifikat » verfügten sie über eine Legitimation für den Umgang mit staatlichen und unternehmerischen Gütern. Diese beiden Verwaltungsvorschriften – die Leitlinie und das grüne Zertifikat – waren auch die wichtigsten Voraussetzungen, um Recyclingdienstleister der multinationalen Elektronikhersteller im Rahmen von Extended Producer Responsibility (EPR) zu werden.

Diese erweiterte Herstellerverantwortung ist eine der wichtigsten internationalen Rechtsformeln für die Abfallwirtschaft. Sie verspricht, Hersteller und Vertreiber zur Rechenschaft über die Kosten der Gesundheits- und Umweltschäden zu ziehen, die durch die Zusammensetzung ihrer Waren und die immer kürzere Lebensdauer der Produkte verursacht werden. EPR zielt darauf ab, die Kosten zu internalisieren, die in der Regel in den Berechnungen der Unternehmen als blosse Externalitäten betrachtet werden, und die Hersteller und Händler anstelle des Staates oder der Endverbraucher*innen zur Kasse zu bitten. Trotz all der lobenswerten Motive und der unbestreitbaren Bedeutung der EPR als internationales politisches Instrument zeigt die im Entstehen begriffene EPR-Verordnung in Bolivien einige unerwartete Auswirkungen, die ihre soziale und ökologische Zweckmässigkeit in Frage stellen.

EPR und die Rückverfolgbarkeit der transnationalen Elektroschrottströme

Die Vereinbarungen, die Recicla mit den nationalen Vertretungen von Panasonic, LG und Samsung Electronics unterzeichnet hat, verbesserten das öffentliche Image des Unternehmens und lieferten zusätzliche IKT-Inputs zum Füllen der Container. Diese Vorteile sind jedoch mit zusätzlichen Kosten und bürokratischen Verfahren verbunden. Um die Einhaltung der EPR-Richtlinie nachzuweisen, verlangen die multinationalen Elektronikkonzerne Dokumente zur Rückverfolgung des gesamten Prozesses. Recicla muss also für alle Teile, die unter die bolivianische EPR-Norm fallen, den Exportpfad ausweisen und die sachgerechte Endbestimmung aller Materialien und Teile angeben. Das hat nachteilige Konsequenzen für die lokale Recycling- und Reparaturwirtschaft. Denn Recicla darf offiziell keine einzige Komponente (z. B. eine funktionierende Leiterplatte oder ein intaktes Display) an andere Recycler oder Reparaturwerkstätten verkaufen. Dieses Verbot bedroht den lokalen und nationalen Ersatzteilhandel, der bei den neuesten IKT-Geräten bereits stärker eingeschränkt ist als bei älteren Geräten. All dies ist im Interesse der multinationalen Konzerne, die darauf abzielen, Geräte mit immer kürzerer Produktlebensdauer zu verkaufen und möglichst wenig Reparaturen zu ermöglichen.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass EPR und ihre Rückverfolgbarkeitsnorm die Marktposition der offiziell anerkannten Betreiber gegenüber anderen Recyclern und Reparaturwerkstätten stärkt, eine eindimensionale Verwendung von Teilen und Komponenten ausschliesslich für das Recycling vorsieht (zu Ungunsten von Wiedergebrauch und Reparatur), aufgrund der grossen Transportentfernungen ökologisch fragwürdig ist, den Bergbaukonzernen hilft, ihre Lieferketten zu erweitern, und potenziell beim Greenwashing dieser Unternehmen mitwirkt. Die ‹ Büroschätze › aus La Paz fliessen in die globale Lieferkette von Umicore, dem ehemaligen Union Minière de Haut Katanga, « das umweltverschmutzende und gewalttätige koloniale belgische Kupferbergbauunternehmen ».16 So werden koloniale Abhängigkeiten unter dem Schutzmantel vermeintlichen Umweltbewusstseins fortgeschrieben. Jedoch gibt es für ein in Bolivien angesiedeltes kleines Elektroschrott-Recycling Unternehmen kaum Alternativen: Nur eine Handvoll Hüttenwerke weltweit sind in der Lage, Einzelteile aus Elektroschrott in ihre Produktion zu reintegrieren und dementsprechend für Leiterplatten einen lukrativen Preis zu bezahlen.17

Schlussfolgerungen

Die in der internationalen Politik und Gesetzgebung beobachtete Flexibilität bei der Klassifizierung von Elektro-Altgeräten als Gefahr oder Ressource ist auch in Bolivien sehr präsent. Die für das neue System zur Bewirtschaftung von Elektroschrott in La Paz verantwortlichen Institutionen haderten mit der heterogenen Zusammensetzung von E-Waste, während sie gleichzeitig deren Interpretationsflexibilität strategisch nutzten. Während der Projektlaufzeit von 2017 bis 2020 verlagerten die verantwortlichen Organisationen ihre Prioritäten vom Recycling von Haushaltselektronik auf die Schaffung bürokratischer Verfahren, um einen überwachten ‹ High-End ›-Elektroschrott-Sektor zu schaffen. Dies hat die Einbeziehung von Schrotthändler*innen und Demontagebetrieben, die weitgehend informell tätig sind, erschwert. Ihre Arbeits- und Umweltpraktiken sind unverändert geblieben. Es bleibt abzuwarten, ob die beobachtete Dynamik auch in anderen bolivianischen Städten stattfindet oder ob sich genossenschaftliche Recycler finden lassen (wie beispielsweise in Kolumbien und Brasilien18). Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die E-Waste-Initiative in Bolivien einen neuen lokalen Markt und eine globale Wertschöpfungskette für die dokumentierte Entsorgung und Handhabung von IKT-Bürogeräten gefördert hat, während informelle Recycler und die lokale Reparaturwirtschaft weiterhin mit dem grössten Teil der alten und zum Teil toxischen Haushaltsgeräte und Unterhaltungselektronik umgehen.

Es gibt keine einfachen und unkomplizierten Lösungen für das ökologisch und sozial nachhaltige Recycling von elektronischen Abfällen. Das informelle Recycling birgt in der Regel Umweltschäden und schwer zu kalkulierende Gesundheitsrisiken für die lokale Bevölkerung und die Arbeiter*innen. Doch die in diesem Artikel analysierten Tendenzen sind ebenso problematisch. Die hier erörterten Massnahmen gehen so gut wie gar nicht auf die Gesundheitsrisiken ein, denen die schwächsten Teilnehmer*innen in der Kette der Materialrückgewinnung ausgesetzt sind, während grosse Teile des Überschusses an höherstufige Recycler und Exporteure sowie an Industrien in jenen Ländern verlagert werden, die über die technologischen Kapazitäten zur Gewinnung der wertvollsten Metalle verfügen. Während die verschiedenen Komponenten und Materialien der IKT dokumentiert entsorgt werden, sind die Umweltkosten (u. a. durch den transatlantischen Transport) hoch. Die Ergebnisse meiner Studie drängen dazu, stärker über kontext- und materialspezifische Dimensionen der Elektroschrott-Wertschöpfung in der globalen Ökonomie nachzudenken. Anstatt veraltete und entsorgte ‹ Elektronikschätze › ins Ausland zu verschiffen und damit historische Abhängigkeiten fortzusetzen, wäre es eine nachhaltigere und für die lokale Bevölkerung vorteilhaftere Alternative, die Wiederverwendung und Reparaturwirtschaft an der Basis zu unterstützen.

Juliane Müller ist Assistenzprofessorin am Department für Sozialanthropologie der Universität von Barcelona. Seit 2013 hat sie sich mit populären Märkten in Bolivien und transnationalen Lieferketten elektronischer Geräte beschäftigt. Sie interessiert sich für wirtschafts-, migrations- und sportethnologische Fragestellungen einer global verflochtenen Welt. 

References
1 Elektroschrott ist international bekannt unter dem Akronym WEEE für «Waste from Electrical and Electronic Equipment», auch Electronic Waste oder E-Waste.
2 Alexander, Catherine; Reno, Joshua (Hg.): Introduction, in: Economies of Recycling: The Global Transformation of Materials, Values and Social Relations, London 2012, S. 17.
3 Alle Übersetzungen aus dem Englischen von der Autorin.
4 Die Analyse basiert auf einer zweimonatigen Feldforschung in La Paz, die sich auf die Akteure und Praktiken des Recyclings und der Reparatur von Elektroschrott konzentrierte (Januar bis März 2020) sowie auf Interviews mit den Hauptakteur*innen des E-Waste- Programms und einer Medien- und Dokumentenanalyse seit 2016.
5 Kama, Kärg: Circling the economy: Resource-making and marketization in EU electronic waste policy, in: Area 47 (1), 03.2015, S. 16–23.
6 Lepawsky, Josh: Reassembling rubbish: worlding electronic waste, Cambridge 2018.
7 Alexander, Catherine; Sanchez, Andrew: Introduction, in: Indeterminacy: waste, value, and the imagination, New York 2019 (WYSE series in social anthropology; Volume 7), S. 1–30; Corwin, Julia: Between Toxics and Gold: Devaluing Informal Labor in the Global Urban Mine, in: Capitalism Nature Socialism 31 (4), 01.10.2020, S. 106–123; Lepawsky: Reassembling rubbish, 2018.
8 Gutberlet, J.: Cooperative urban mining in Brazil: Collective practices in selective household waste collection and recycling, in: Waste Management (New York, N.Y.) 45, 11.2015, S. 2.
9 Knapp, Freyja L: The birth of the flexible mine: Changing geographies of mining and the e-waste commodity frontier, in: Environment and Planning A: Economy and Space 48 (10), 01.10.2016, S.1895–98.
10 Clinckspoor, Greta Liz; Suárez, Francisco: Los raee, nuevos desafíos urbanos. Una aproximación a los estudios sobre residuos de aparatos electrónicos y eléctricos en Latinoamérica, in: Schamber, P. J.; Suárez, F. M. (Hg.): Recicloscopio V, Los Polvorines o. D., S. 292.
11 Ebd.,S.297.
12 Brandão, Igor R.; Gutiérrez, Ricardo A.: La emergencia de nuevos regímenes de políticas de residuos sólidos en América Latina: los casos de la Argentina y Brasil, in: Schamber, P. J.; Suárez, F. M. (Hg.): Recicloscopio V, Los Polvorines o. D., S. 247 – 284.
13 Populäre Ökonomie (economía popular) steht für einen Paradigmenwechsel in der sozialwissenschaftlichen Forschung zu informellen wirtschaftlichen Aktivitäten im Globalen Süden, insbesondere in Lateinamerika. Sie untersucht sozio-kulturelle Mechanismen der Herstellung von wirtschaftlicher Ordnung und Stabilität sowie sozialer Sicherheit in urbanen Milieus und unter Minderheiten, die nur unzulänglich staatlich unterstützt und reguliert werden.
14 Müller, Juliane: The Limits of Corporate Chains and Brand Management: «Loyalty» and the Efficacy of Vernacular Markets in the Andes, in: Cultural Anthropology 36 (2), 11.05.2021, S. 252–281.
15 Lepawsky: Reassembling rubbish, 2018.
16 Knapp: The birth of the flexible mine, 2016, S. 1899.
17 Lepawsky: Reassembling rubbish, 2018, S.89.
18 Gutberlet, Jutta; Besen, Gina Rizpah; Morais, Leandro: Participatory solid waste governance and the role of social and solidarity economy: experiences from São Paulo, Brazil, in: Detritus (13), 05.10.2020, S. 167 – 180.