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Ich habe euch verlassen

Theatralität und neue togetherness in Social VR

[Abstract] Als Theaterbühne, Seminarraum, Filmset oder Ausstellungsraum öffnet VRChat den virtuellen Raum für emanzipatorische Anwendungen. Ein Erfahrungsbericht über virtuelle Dialoge, VR-Krankheit und Aktionskunst in surrealen Welten.

März 2021, Katharina Haverich moderiert als kathav einen Abend von Musiker und Künstler Christopher Hotti Böhm am Deutschen Studienzentrum in Venedig in einer nachgebauten Version der Umgebung von der Basilica della Salute im Computerspiel VRChat. Welt: Venice Basilica Salute von nobelchoco. Avatar: ChimeRabbit von chemical_12. Screenshot aus Videomitschnitt von Arne Vogelgesang

Auf dem Tempelhofer Feld in Berlin scheint die Sonne, ich blinzel: wow, ist das hell. Ich wende meinen Kopf von der Sonne weg und denke: aber nicht so hell wie in VR.

Nach dem GameBoy habe ich nie wieder Computer gespielt. Gesellschaftsspiele interessieren mich kaum. Dafür mache ich Theater, also Spielen per se ist nicht das Problem. Warum ist das relevant? Hier wird vieles nach Spielen aussehen, obwohl es das nicht ist. Ob das wirklich so schlimm wäre, ist eine andere Frage.

Während du das hier liest, bist du ziemlich sicher nicht in VR. Wenn du noch nie in VR warst, bitte ich dich, über die Ästhetik der Screenshots hinwegzusehen und dich mit mir zu fragen: Wie könnte und sollte das aussehen, damit wir uns hier aufhalten möchten, weil ja, ich will, dass wir hier sind. Es ist Platz hier für Dinge, die sonst so nicht stattfinden würden. Und wenn wir uns hier nicht aufhalten, wird es ein Ort, der ganz und gar vom König Mark Zuckerberg regiert wird, Territorium.

Meine unkritische Backstory zu VR (auch, um zu beweisen, dass ich kein Hardware-Hersteller-Bot bin)

Die erste VR Brille habe ich 2018 auf dem Gesicht, bei einer Firma für VR Video-Produktion in Berlin. Sie zeigen mir ein 360°-Video von einem Pferd auf der Weide, das auf mich zugeht. Ich stehe bei fremden Leuten in einem kleinen Büro und bin erstaunt, lächle, atme aufgeregt. Wegen dem Pferd, weil es sich mir neugierig nähert. Ich bin 38 Jahre alt und emotional / mental so stabil, wie man es von einer Künstlerin erwarten kann. Es sollte mich weniger faszinieren, ergreifen, berühren. Tut es aber nicht.

Seit diesem Erlebnis weitet sich meine Bühne aus, mein Werkzeugkoffer hat ein neues Abteil. Ich habe ab sofort gefühlt zwei Möglichkeiten: mache ich es analog oder in VR? Mit Beginn der Pandemie durchlaufe ich zusammen mit Christopher Hotti Böhm, Arne Vogelgesang und Holger Heissmeyer als unreal.theater eine Art VR Training. Wir treffen uns regelmässig in VR, um zu schauen, ob und wie dort Theater stattfinden kann. Weil wir – u. a. Pandemie-bedingt – Humor brauchen, nennen wir unsere Zeit in VR VReaterVReffen, angelehnt an das Berliner Theatertreffen, zu dem jährlich bemerkenswerte Inszenierungen aus dem deutschsprachigen Raum eingeladen werden. Seit 2020 treffen wir uns mit Gästen, die wir auf gemeinsame Expeditionen durch über 25 000 community-built Welten einladen; eine Art co-learning darüber, sich in VRChat aufzuhalten.

VR-was? VRChat: VR für « Virtual Reality » und Chat für « Plaudern »

VRChat ist eine Plattform für Social Virtual Reality, kurz Social VR, wo sich Nutzer*innen als Avatare in virtuellen Umgebungen versammeln können. Das massively ‹ multiplayer online game › VRChat beschreibt sich selbst als

[…] an ever-expanding virtual universe powered by a passionate community who create and share virtual worlds, avatars,
and interactive experiences. Since its founding in 2015, the plat-
form has grown to millions of users and features a passion-
ate community of creators who have published tens of millions
of unique pieces of content.
1

Mit Unity (eine 3D und 2D Entwicklungssoftware) und dem von VRChat zur Verfügung gestellten SDK (Software Development Kit) bauen sich Nutzer*innen eigene Avatare und Welten, um sie hochzuladen und mit anderen Nutzer*innen zu teilen. VRChat kann über PC Desktop oder mit VR-Headsets gespielt werden, z. B. mit VIVE oder Oculus Quest. Die Plattform ist nicht open-source und hat Community Guidelines, die die Gestaltung von und das Verhalten in VRChat regeln sollen. Die Altersfreigabe liegt bei 13 Jahren. Anstössige Inhalte sind verboten. Fehlverhalten wird mit dem Aussetzen des Accounts bzw. dem Löschen der Welt sanktioniert.

Natürlich gibt es neben VRChat noch zahlreiche andere Plattformen für Social VR, darunter Neos VR, Mozilla Hubs und AltspaceVR. Ausser Veranstaltungen, die ich aus beruflichen Gründen in Mozilla Hubs besuche (Eröffnung der Berliner Spielstätte Prater Digital in 2020, Tischgespräch bei der Jahrestagung der dramaturgischen Gesellschaft in 2021), befasse ich mich wenig mit anderen Plattformen. Desinteresse? Zeitmangel? Vielleicht wäre es wie ein Fahrrad-Typ-Wechsel, nachdem man gerade das Fahrradfahren gelernt hat.

Zum kleinen Versprechen der Territorialität in VR: es ist nunmal so, dass es in VRChat einen hohen Anteil an männlichen Nutzern gibt, was die Stimmung dort, wie soll ich sagen, prägt.

(Leider sind die Zahlen hier von 2019, in Internet-Zeit sind sie also gegebenenfalls schon bedeutungslos.)

Es ist ein ‹ boy’s club ›, in den ich mich reinschmuggeln kann, ohne Angst um meinen Körper. Im Notfall mute ich diejenigen um mich herum, die mich beleidigen. Ich finde diesen boy’s club aber ansprechend: die Avatare sind toll, die Welten sind toll. Und in privaten ‹ Instanzen › kann ich mir aussuchen, mit wem ich mich umgeben möchte. Hier möchte ich sein. Hier werde ich arbeiten, genau.

Drei Arbeiten, die ich 2021 in VRChat durchgeführt habe, beschreibe ich hier ausführlicher. Die künstlerisch-politischen Bildnerinnen Radikale Töchter führten im Rahmen der Virtuellen Bandenbildung eine How-to Workshopreihe zu Aktionskunst in VR mit drei jungen Frauen aus Sachsen durch. Das Interview Mütter in VR lief im Off Stage-Programm der re:publica 2 und Frauen, die über ihre gewaltvollen Träume gegen Männer sprechen, lief als … dreams about girls bei Berlin Art Week Connect. Was waren die Ziele? Wie lief das ab und was waren die Learnings? OK, let’s go.

Virtuelle Bandenbildung (dreiteilige Workshop-Reihe in Aktionskunst) Ziel: Erstwähler*innen aus Sachsen, Brandenburg und Thüringen politische Aktionskunst beibringen. In Social VR.

Für einen Antrag bei der Bundeszentrale für politische Bildung 2019 lehne ich mich weit aus dem Fenster und sage: Ich kann politische Bildungsworkshops in der virtuellen Realität durchführen. Während der dreijährigen Förderperiode hoffe ich, dass sich da niemand dran erinnert. Dann kommt die Pandemie und alle erinnern sich dran. OK.

Die analogen und digitalen Workshops, die die Radikalen Töchter durchführen, bestehen aus Präsentationen über politische Aktionskunst und der eigenständigen Konzeption von Aktionskunst-Projekten durch die Teilnehmenden. Aus meiner bisherigen Zeit in Social VR habe ich verstanden, dass ich darin unbedingt handeln möchte: laufen, spielen, sprechen, interagieren. Eine 45 Min Frontalpräsentation ist aus meiner Perspektive völlig undenkbar, epic fail, Medium nicht verstanden. Zusammen mit dem Medienkünstler Lenn Blaschke entsteht mit Virtuelle Bandenbildung eine Alpha-Version von einem künstlerisch-politischen Bildungsworkshop in VR. Über die sozialen Medien verbreiten wir den Aufruf zur Teilnahme und erhalten eine sehr überschaubare Anzahl von Rückmeldungen. Wir schicken drei VR Headsets nach Leipzig und ins Umland von Leipzig zu jungen Frauen, die keine bis wenig Erfahrung mit VR haben. Einen kurzen Leitfaden legen wir zu den Headsets dazu. Telefonisch klären wir wenige Stunden vor dem ersten Treffen in VR Fragen zu Hard- und Software. Der Workshop geht über zwei Monate und besteht aus 3 × 2 Stunden gemeinsamer Zeit in Virtual Reality sowie einer Telegram Gruppe für Workshopleitung und Teilnehmerinnen. Es sind tatsächlich alle fast pünktlich am ersten Tag zur ersten Session in der default VRChat Home-Welt! Unglaublich.

Bevor eine der Teilnehmerinnen wegen der VR- Krankheit die Session verlassen muss: das Brainstorming zu politisch-künstlerischen Aktionen gegen Polizeigewalt in Leipzig auf quasi Whiteboards als halbnackte Gladiatorinnen-Winnie-Puuhs. Noch Fragen? Welt: Presentation Room von vrchat. Avatar: Mega Buff Pooh 3.0 von Sal

Das Bauen einer eigenen Welt wäre in VRChat zu aufwändig gewesen. Wir verzichten auf Photos, Videos, GIFs und Texte, das heisst auf eigentlich alle klassischen Workshopmaterialien. So bestehen die Treffen in bereits existierenden Welten auf der Plattform zunächst aus Kennenlernen und Gesprächen über Kunst, Politik und Aktivismus. Die Gespräche sind immer begleitet – und unterbrochen – von Bemerkungen zu den Welten, in denen wir uns aufhalten, Kommentaren über das Aussehen und die Funktionen von Avataren und Gefühlen zu beziehungsweise körperlichen Reaktionen auf das Sein in VR. Ich würde die Stimmung als hyper-aufmerksam beschreiben. Nichts ist gewöhnlich.

Die Gruppe profitiert von den Erfahrungen, die die einzelnen Teilnehmerinnen in die Treffen einbringen: künstlerische Hintergründe, Aktivismus-Erfahrungen, politische Ambitionen. Eine Anleitung aus dem analogen Workshop der Radikalen Töchter bietet schliesslich die Grundlage für das gemeinsame Brainstormen in einer VR-Welt, in der es nur weisse Leinwände und bunte Stifte gibt.

Wie in einem Seminarraum schreiben Lenn und ich die Titel der Anleitung auf die weissen Leinwände, um dann mit den Teilnehmerinnen rumzugehen und die Leinwände zu beschreiben. Wir sind kreativ und fleissig, bis eine Teilnehmerin wegen VR-Krankheit das VR-Headset abnehmen muss und für den Rest der letzten Session ausfällt.

Das Testen dieser Alpha-Version von Aktionskunst-Workshops in VR haben wir mit 1 : 1 Interviews in VR sowie einem Fragebogen mit 60 Fragen zur Nutzung von VR abgeschlossen. Dabei ging es um Lernen, Wahrnehmung, technische, körperliche und mentale Herausforderungen sowie mögliche Einsatzbereiche. Bei drei Teilnehmerinnen kann kaum von einer Studie gesprochen werden, doch bei den Fragen zur Förderung von Kreativität durch VR und zum Aktivismus in VR gab es schöne Ergebnisse:

Bemerkenswert war ein Kommentar zur Immersion: Die jungen Teilnehmerinnen sind alle mit Handys gross geworden. Dass während des Tragens der Oculus Quest VR-Headsets die parallele Nutzung des Handys nicht möglich ist, haben die Teilnehmerinnen während der Workshops als positiv wahrgenommen. Ausser in den Momenten, in denen es technische Probleme gab, und wir den Telegram-Kanal als ‹ fallback channel › nutzen mussten.

Es ist erstaunlich, dass aus dieser Alpha-Version noch keine Voll- oder zumindest Beta-Version geworden ist. Gross scheint die Skepsis von politischen Bildner*innen gegenüber den neuen Medien. Zugegebenermassen entsprechen angenehme Gruppengrössen in VR aber auch nicht unbedingt Klassenstärken von 20 – 30 jungen Erwachsenen. Die Infrastruktur von Open Call bis Onboarding über Inhalte ohne Visualisierungsmöglichkeiten passend machen bis hin zu Dokumentation und Evaluation war recht aufwändig als Social VR Projekt. Das geht natürlich auch ganz anders.

Neo.NEULAND präsentiert: Mütter in VR (Interview, Videopräsentation) Ziel: Kick-Off für eine Interview-Reihe mit neo.NEULAND, darin Gespräch über Kunst machen als Mutter

Dagmar Ege (freie Filmregisseurin, Autorin und Coach für Kreative und Künstler*innen) macht einen Podcast zum Thema Frau hat Vision. Ich freue mich über die Einladung und lade sie zurück ein, zu VRChat zu kommen, um das Interview dort durchzuführen und von Lenn Blaschke (Lenn und ich sind jetzt neo.NEULAND) filmen zu lassen. Und das reichen wir dann als Konzept bei der re:publica ein. Doability: fabelhaft, Verschnaufpause! Also machen wir das. Dagmar Ege möchte zum Thema Muttersein und Kunst machen sprechen. Sie hat Kinder und ich auch, deshalb fragt sie mich. Meine Beiträge im Gespräch können politisch sein, sollen aber von Herzen kommen und mich beschäftigen. Ich finde das Thema Muttersein zu privat, sehe absolut nicht ein, wie / dass das Kinder haben meine künstlerische Praxis verändert haben soll und kann anders als Mareice Kaiser mit ihrem « Unwohlsein der modernen Mutter » bislang keinen produktiven Umgang mit dem Thema vorweisen.

«Sagst du im Kunstkontext, dass du Mutter bist?», fragt Dagmar Ege im Gespräch. Die Tiefkühlpizza als Inbegriff dafür, keine Zeit zum Kochen zu haben. Welt: Just Pizza von ianwan. Avatare: ChimeRabbit von chemical_12, Blonde Girl von CornyNachos

ABLAUF: Zwischenzeitlich habe ich mit und für unreal.theater und andere Projekte zahlreiche Menschen u. a. im Rahmen von Workshops zu Social VR geonboardet, also ihnen die Hard- und Software erklärt, oft über Zoom oder am Telefon. Mit fremden Menschen üben: Laufen in VR, Sprechen in VR, Emojis im Raum verteilen etc. Ich bin ein bisschen müde davon. Man sagt ja wirklich immer dasselbe. Natürlich mit Liebe und Geduld.

Dass Dagmar in mein Studio in Kreuzberg kommt, freut mich deshalb sehr. Ganz entspannt zeige ich ihr alles, sie ist im vorderen Raum, ich gehe in den Hinteren, wegen dem Ton, der über das Mikrophon des Headsets in die virtuelle Realität gelangt. Dagmar und mein Ton würden sich überlappen. Social VR geht nur, wenn man alleine im Raum ist. Lenn ist in Leipzig, wo er super Equipment hat für Videoaufnahmen in VR. Er kann feste Kameras in den Welten platzieren und eine Handkamera benutzen. Vorab haben Lenn und ich nach passenden Welten für das Gespräch gesucht. Ein TV-Studio, eine Pizza und ein Café haben es uns angetan.VReaterVReffen

Die Welten haben wir uns so zurechtgelegt, dass wir zügig von A nach B wechseln können. Die Positionen von Dagmar und mir in den Welten sind wir vorher durchgegangen. Die Avatare wurden u. a. danach ausgewählt, dass Augen und Mund erkennbar und dass die Höhen für den Kameraausschnitt einigermassen kompatibel waren.

Wir drehen ca. 2,5 Stunden, anschliessend schneidet Lenn das Video. Er fügt Bilder von meinen Arbeiten ein und blendet Namen und Jobbeschreibungen von Dagmar und mir ein. Wie in einem echten Fernsehinterview. Zur re:publica schalten wir das fertig geschnittene Video live auf YouTube und schauen mit einigen anderen re:publica Zuschauer*innen das Interview an.

Ich behaupte, dass wenn dieses Gespräch über Kunst machen als Mutter nicht in VR stattgefunden hätte, hätte es nirgends stattgefunden. Ein langweiliges Thema? Gut möglich. Das Medium Social VR als Setting für Podcast-ähnliche Formate bietet potentiell neues, anderes Publikum. Kann sein. Die verspielte Rahmung ist ablenkend, vielleicht auf eine gute Art. In jedem Fall war der Produktionsprozess entspannt. Das Gespräch ohne Publikum in VR oder live Stream zu Twitch zu führen hat sicher auch einen gewissen drive rausgenommen, würde ich aus der Perspektive einer Performerin sagen. Auch: Ist das eine klimafreundliche Variante für Interviews, mit so wenig Bedarf an Infrastruktur, ohne Reiseaufwand? Wer rechnet den Energieverbrauch für die Herstellung der sich ständig überholenden Hardware und den Energiekosten der Server von VRChat gegen eine Reise mit dem ICE auf, wenn Dagmar jetzt aus Hamburg nach Berlin hätte kommen wollen? Oder mit dem Flugzeug aus der Türkei?

Gut 100 Zuschauer*innen haben das Interview angesehen (Stand: Januar 2022). Die Interaktion mit dem Publikum war gering: Eine Mutter kommentiert, dass sie mit ihrem Kind beim Zuschauen eingeschlafen sei und in einem anderen Kommentar zweifelt ein YouTube-Nutzer an Lenns Werten, weil er mit mir zusammenarbeitet:

[…] she is promoting and encouraging violence against men. She is even asking her supporters to tell their dreams
about being violent towards men.

Über einen Open Call suche ich zu dieser Zeit nach Frauen, die mir ihre gewaltvollen Träume gegen Männer erzählen, um daraus spielbare Sequenzen in VRChat zu entwerfen.

… dreams about girls (Mixed-Reality Performance Installation) Ziel: eine live Show in Berlin mit Motiven aus Traumwelten von Frauen in VR

Seit einigen Jahren arbeite ich mit meinen eigenen Traumsequenzen und habe für … dreams about girls andere Frauen gebeten, mir von ihren gewaltvollen Träumen gegen Männer zu erzählen. Das Ziel war der Nachbau des live Präsentationsortes in VR sowie ein Durchbruch aus dem Präsentationsort in eine Welt aus spielbaren Traumsequenzen für pre-enactments, which « […] experiment with fictitious time(s) and space(s) in order to gain insight into the present .» 3

Aus existierenden 3D Modellen der Spreehalle und digitalem Visualisierungsmaterial der Szenographen JASCHA & FRANZ baue ich zusammen mit dem technischen Künstler Roman Miletitch die Welt … dreams about girls in VRChat. Zu sehen sind in dieser Welt auch die Video-Interviews, in denen die Träumerinnen Monate zuvor in VRChat von ihren gewaltvollen Träumen gegen Männer erzählt hatten. Aus diesem VR-Raum streamen wir als Teil der live Show in den Veranstaltungsort Spreehalle. Dazu zeigen wir Romans Point of View (POV), der die erträumten Objekte in die Hand nimmt und Text-Karten mit Zitaten aus den Traum-Berichten zeigt. Während wir zunächst mit einem privaten Raum arbeiten, zu dem nur geladene Gäste Zugang haben, sehen wir, dass in anderen Instanzen desselben Raums gut zwanzig Menschen Zeit verbringen. Wir wechseln den Stream und zeigen diese VR-Gäste auf unserer Bühne in der Spreehalle.

Wer sind diese Besucher*innen? Ist das (m)ein Publikum? Seit September 2021 haben über 5000 Menschen die Welt … dreams about girls auf VRChat besucht.4 Das ist wirklich unglaublich spannend, ich habe viele Fragen dazu: Wo kann ein Resonanzraum entstehen, in dem ich mit ihnen in Austausch sein kann? Was kann dieses VR-Publikum mit dem live Publikum in Theatern zu tun haben? Und liegt ein Potential in dem gemeinsamen Erleben einer Show von einem internationalen Gaming (?) Publikum und einem lokalen, analogen Theaterpublikum?

Ich habe ziemlich viel gelernt aus dieser Arbeit, die glücklicherweise als work-in-progress präsentiert wurde. Das Designen und Bauen von Welten auf Grundlage von dokumentarischem Material dauert lange. Das Onboarding von Remote-Publikum ist nicht mit einem einmaligen Erklärtermin von zwei Stunden erledigt, zu dem manche gar nicht kommen, weil sie denken « werd ich schon hinkriegen ». Es braucht VR-Anleiter*innen, die bei Hard- und Software Problemen dem Publikum in der bzw. auf dem Weg in die VR-Welt zur Seite stehen. Auch während der live Show. Und danach haben Zuschauer*innen Redebedarf. Wer moderiert das?


Roman Miletitch als Medium? Sein Erleben in VR wird samt Anwesenheit des dortigen Publikums in die live Show …dreams about girls gestreamt. Photos von André Wunstorf

« Fasst mich bitte nicht an. »

Die Fragen nach Moderation, Präsenz und Inhalten treiben mich um. Das Ganze geht jetzt ja wahrscheinlich nicht mehr weg. Sind Leute wie ich da Mitschuld? Was ist das denn jetzt genau: Hilfsmittel, Überbrückung, Ersatz? Mark Zuckerberg spricht vom Metaversum, es ist laut Wirtschaftsdienst Bloomberg bald eine riesige Wirtschaft mit geschätzten 800 Milliarden Dollar Umsatz in 2024.5 Das ist in zwei Jahren!

« Fasst mich bitte nicht an », sage ich zu Hause zu meinen Kindern, wenn ich das VR-Headset aufhabe. Ich nehme da ein ganzes Zimmer ein. Sie müssen leise sein wie bei Videokonferenzen, sonst machen sie mein immersives Erleben kaputt. Das brauche ich, um dort wichtige Arbeit zu verrichten. Meine Präsenz und meine Inhalte sind doch wichtig dort?

Welche Arbeit lässt sich in der virtuellen Realität ausführen? Politische? Künstlerische? Pädagogische und soziale Arbeit? Jetzt richtig schnell für die gute Sache nutzen! Ein Mann mit Sehbehinderung und ich beschliessen 2021, VR gemeinsam auf Barrierefreiheit zu testen. Es ist – wie zu erwarten war – ein Drama, aber zum Glück bleibt er entspannt und macht konstruktive Vorschläge dazu, wie VR sein müsste für Menschen mit Sehbehinderungen. Meinem Bruder, er hat das Down Syndrom, habe ich das Headset noch nie angeboten. Ich glaube, er hat es mir immer noch nicht verziehen, dass ich ihm vor 25 Jahren testweise Rollschuhe angezogen habe. Vielleicht sind wir aber beide geduldiger geworden und könnten das probieren. Ich frage ihn.

Katharina Haverich ist Performance- und Medienkünstlerin in Berlin. Sie arbeitet an der Schnittstelle zwischen Theater und Medien unter dem Einfluss von Träumen. Seit 2018 experimentiert sie mit VR in unterschiedlichen Arbeitskontexten, u. a. für künstlerische 360-Grad-Video-Installationen, Pre- und Re-Enactments, Interviews und politische Bildung. Plus Abhängen.

References
1 VRChat: Fact Sheet, vrchat.com, Stand: 04.02.2022.
2 Eine jährliche Konferenz rund um das Web 2.0, insbesondere zu Weblogs, sozialen Medien und der digitalen Gesellschaft.
3 Oberkrome, Friederike und Straub, Verena: Performing in Between Times: An Introduction, in Czirak, Adam; Nikoleit, Sophie; Oberkrome, Friederike; Straub, Verena; Walter-Jochum, Robert; Wetzels, Michael (Hg.): Performance zwischen den Zeiten: Reenactments und Preenactments in Kunst und Wissenschaft, Bielefeld 2019, S. 9.
4 … dreams about girls auf der Website « Introducing the worlds you can visit in VRChat », mit Statistiken zu VRChat Welten https://en.vrcw.net/world/detail/wrld_dcca6a86-0a01-4007- b17c-9f4201991925, Stand: 04.02.2022.
5 Buchter, Heike; Nezik, Ann-Kathrin: Aufbruch ins Metaversum, zeit.de, 02.02.2022, Stand: 06.02.2022.