Vigia ist ein Printmagazin, das sich Fragen der Technologie im Zusammenhang mit ihrer gesellschaftlichen und politischen Bedeutung widmet. Wir wollen einen Raum für politische und wissenschaftliche Diskussionen und Visionen darüber eröffnen, wie Technologie unser Leben prägt, wem sie dient, wen sie bereichert oder wer sich daran bereichert, wer Zugang hat, wer ausgegrenzt wird und warum dies so ist, welchen Narrativen sie folgt und welche Diskurse daraus entstehen, welche affirmativen oder widerständigen Praktiken sich innerhalb wie ausserhalb bestimmter Anwendungen ergeben und welche emanzipatorischen Zukunftsentwürfe möglich sind. Wir arbeiten nicht profitorientiert und versuchen uns durch Abos und Heftverkäufe längerfristig finanzieren zu können.
Über uns ausführlich
Vigia, eine in nautischen Karten festgehaltene Gefahr, deren Existenz oder Position ungewiss ist. Der Begriff leitet sich vom spanischen Wort vigía, vom portugiesischen Wort vigia, beziehungsweise vom lateinischen Wort vigilare für «wachsam sein» ab.
Der Begriff Vigia entstammt der frühneuzeitlichen westeuropäischen Nautik, wo potentielle Gefahren auf Karten als ‹Vigia›, das heisst als Piktogramm (meist mit einem X im Kreis) markiert wurden. Aufgrund der mittlerweile bekannten Untiefen, Felsen und Schiffswracks ist diese Praxis nicht mehr geläufig. Doch der Begriff lässt sich im übertragenen Sinne auch heute noch verwenden. Im Spannungsfeld von Technologie und Gesellschaft verstehen wir Vigia als ein Vorhaben mit drei Dimensionen: erstens die vertiefte Analyse jener Gefahren, die andere bereits angedeutet haben; zweitens die Demystifizierung jener Untiefen, die sich bei genauerem Blick als ungefährlich und unproblematisch herausstellen oder aber die einige als risikolos betrachten, obwohl darin gesellschaftliche Gefahren lauern; drittens das Sichtbarmachen jener Bruchstellen, die nicht Gefahr, sondern Gegenbewegung zu Vereinnahmungen sind und die als widerständige Praxis zu einem kollektiven Umdenken oder einer Veränderung der gegenwärtigen, kapitalistischen Normalität führen können.
Wachsam sein und Gefahren erkennen
Als nautische Piktogramme halfen Vigias bei der Eingrenzung und Umschiffung von gefährlichen Meeresstellen. Zugleich bildeten sie eine kollektive Informationsverarbeitung. Wer eine Gefahr erkannte oder erahnte, konnte sie einzeichnen und damit die Information für andere sichtbar machen. Aus diesem kontinuierlichen Prozess kollektivierter Erinnerungen entstanden Karten, dank denen sich Untiefen oder Felsen genauer eingrenzen liessen. Diesem Prozess enthalten ist der Imperativ, stets wachsam zu sein und sich an der Suche nach Gefahren zu beteiligen, deren Potential noch nicht abzuschätzen oder deren Existenz infrage zu stellen ist. Konträr dazu gibt es auch jene Gefahren, die negiert werden, obwohl sie thematisiert werden müssen. Beides gehört im übertragenen Sinne zum klassischen Repertoire einer kritischen Technologiezeitschrift. So glauben wir, dass in einer sich technologisch wandelnden Gesellschaft stets neue Fragen, lokale wie globale Widersprüche und Ungleichheiten auftauchen, die es mit Blick auf deren Überwindung sichtbar zu machen gilt.
Ist da wirklich was?
Vigias konnten tatsächliche Gefahren markieren. Sie konnten allerdings ebenso ausgedacht sein oder Gerüchten folgen, die sich trotz zahlreicher Erkundungstouren nicht bestätigen liessen. Dass die nautische Suche nach potentiellen Untiefen und gefährlichen Stellen stets mit Angstphantasmen und Imaginationen verknüpft war, lässt sich kulturhistorisch leicht deuten. Die nicht umfassend kartografierte Fläche des Meeres und die damit zusammenhängenden Schiffsunglücke riefen geradezu nach einer Projektionsfläche für kollektive Ängste beziehungsweise nach einem Beherrschungswunsch durch rationalisierte Kontrolle und damit einhergehenden wissenschaftlichen, politischen und ökonomischen (Verwertungs-)Techniken. Anders gesagt, hatten Vigias kulturhistorisch gedeutet stets einen Doppelcharakter: Einerseits zeugen sie von der latenten Angst, dass es da draussen Gefahren gibt, die auch die modernsten Schiffe auf Grund laufen lässt. Andererseits signalisieren sie die Hoffnung, die Gefahren durch verbesserte Kartografie und Wissenschaft überwinden zu können. Beide Bestandteile lassen sich auf das Feld der zeitgenössischen Technologien übertragen, die ebenso Angst wie Hoffnung auslösen und deren Analyse wie das unbekannte Meeresgewässer und seine komplexen Strömungen dadurch erschwert wird, dass sie in ihren globalen Verstrickungen nicht leicht repräsentiert oder gedacht werden können.
Dabei interessiert uns nicht nur die wissenschaftliche Aufarbeitung der Gefahrenstellen, das heisst die Demystifizierung der kollektiven Ängste wie auch der Technologien selbst, sondern auch die darin enthaltenen Wechselwirkungen, beispielsweise die dem Aufklärungsprozess ebenso oft folgende Re-Mystifizierung. Eines von zahlreichen Beispielen hierfür ist die Entwicklung des Personal Computers und der damit einhergehenden Vorstellungen. Auf der einen Seite entwickelten Hobbytechniker*innen den PC als Abkehr von den zentralisierten Mainframe-Computersystemen. Durch das persönliche Gerät erhoffte man sich eine dezentralisierende Machtübertragung an das Individuum. Gleichzeitig wurde der PC jedoch zum Grundbaustein eines umfassenden Markterfolgs, der den Aufstieg neuer und mächtiger Unternehmen ermöglichte. Ein damit zusammenhängendes zweites Beispiel ist der Cyberspace. Auf der einen Seite stehen utopischen Visionen von einem Netzwerk, welches Macht auf eine Vielzahl von Personen überträgt, auf der anderen Seite die räumliche Repräsentation des Spätkapitalismus: imaginiert als Raum der flüchtigen Informationsgesellschaft, real umgesetzt als kommerzialisiertes Internet samt seinen monopolisierten sozialen Plattformen und den digitalen Raum einnehmenden E-Commerce Angeboten. Solche Prozesse in ihren verschiedenen zeitlichen und räumlichen Dimensionen von Technologie, Gesellschaft und Ideologien zu untersuchen, verstehen wir als Teil einer eigenen Praxis der Kartografierung.
Unter der Vigia liegt der Strand
Auf die modernen Technologien übertragen müssen Hindernisse und Untiefen nicht zwingend negativ gelesen werden. Als nicht immer fassbare Leerstellen oder als manifestierte Gegenbewegungen bilden Vigias in unserem Verständnis ebenso Risse und Brüche, die sich der Vereinnahmung widersetzen und die eine Gefahr für die politische oder ökonomische Verwertung bilden. Ob als kollektive Handlungsmacht des ‹Low-Life› gegenüber der technologischen Veränderung der ‹High-Tech›, als individuelles ‹desire to not get wired›, als Piraterie oder als subversive Eigenentwicklungen besitzen Technologien mitunter das Potential einer Aneignung von unten.
Als Beispiel hierfür dient nochmals der Computer und der Cyberspace, deren gemeinsame Geschichte von einem vielfältigen und differenzierten Experimentierfeld an emanzipatorischen Aneignungsversuchen zeugt. Das Internet taugt beispielsweise als globaler und sicherer Vernetzungsort wie auch als Raum der Gegenöffentlichkeit und Wahrnehmungserweiterung. Hacker*innen nutzen die neuen Möglichkeiten und machen bisher geheime Informationen zugänglich. Auch die Kunst spielt mit den neuen Technologien, und dekonstruiert dabei starre Subjektpositionen. Und auch die Theorie profitiert von neuem technologischen Wissen. Der Cyborg beispielsweise entnaturalisiert die kollektive Gewissheit darüber, was Natur oder Geschlecht ist. Als widerständige Praxis sowie als Grundlage von Alternativen begegnen wir Technologien deshalb nicht nur mit einem warnenden Ruf vor deren nicht neutralen Grundlage, sondern ebenso im Sinne eines emanzipatorischen Werkzeugkastens. Wie mit diesem nicht auflösbaren Widerspruch umzugehen ist und wie damit konkrete Entwicklungen analysiert werden können, bildet Bestandteil einer anhaltenden Suche nach einer eigenen Positionierung.
Politisierung als Mittel der Positionsfindung
Egal ob man sich dem drohenden Schiffsuntergang entgegenstellt oder ihn befördern will: Wer mittels einer Karte auf eine Vigia trifft, muss sich erst selbst verorten. In Fragen der Schiffsfahrt lässt sich dies mit Navigationsgeräten lösen, in Fragen des Verhältnisses von Technologie und Gesellschaft gibt es solche Messgeräte nicht. Allerdings gibt es eine Methode, die wir für die eigene Positionsbestimmung als zentral erachten: Die Politisierung der Technologie. Politisierung enthält in dieser Verwendung zwei zentrale Eigenschaften. Ersten kann die technologische Entwicklung und Nutzung historisiert werden. Das heisst beispielsweise, dass sie bezüglich der ökonomischen und sozialen Widersprüche analysiert werden kann oder dass die Entwicklung neuer Technologien mit einer Entwicklung neuer rhetorischer und sozialer Techniken einhergeht, die sich ebenfalls beschreiben lassen. Zweitens ist die Politisierung mit einer Öffnung verbunden. Politisiert besitzen Technologien bezüglich ihrer imaginierten wie realen Anwendungsbereiche im besten Falle eine von der Gegenwart und ihren Bedingungen und Normen abweichende Zukunftsperspektive, die dem bewusst(er)en Handeln, kollektiven Diskussionen und dem dazugehörigen Gegendruck auf hegemoniale Ideologien folgt.
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Credits
Konzept & Design:
Jan Reimann
studio-fuser.ch
Programmierung:
Gabriel Bach
bachstein.ch
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