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Obsolete Schiffe, funktionierende Geräte

Die Abwrackwerfte und Second-Hand-Märkte für elektronische Geräte in Alang

[Abstract] Riesige Handelsschiffe sind für das Thema Elektroschrott nicht nur deshalb interessant, weil sie den globalen Handel damit ermöglichen, sondern auch, weil sie an ihrem Lebensende selbst zu einer Goldgrube für Second-Hand-Elektronik werden. Ein Bericht über das Nachleben ausgedienter Schiffsinfrastruktur in Indien.

Seeschiffe sind die grössten von Menschenhand geschaffenen beweglichen Objekte. Die durchschnittliche kommerzielle Lebensdauer dieser Schiffe beträgt 25 – 30 Jahre. Danach wird es für ihre Eigentümer*innen unwirtschaftlich, sie effektiv zu warten und gewinnbringend zu betreiben. Die Betriebsdauer wird manchmal auch durch eine plötzliche Wirtschafts- oder Finanzkrise verkürzt. Die Gründe für das Abwracken eines Schiffes sind demnach vielfältig. Das Alter des Schiffes ist einer der häufigsten Gründe, aber auch Überkapazitäten bei der Tonnage, sich ändernde Vorschriften für den Bau und den Betrieb von Schiffen sowie Versicherungszwänge sind einige der Gründe, warum Schiffe zum Abwracken verkauft werden. Jährlich werden durchschnittlich 700 Schiffe zum Abwracken geschickt. Ein veraltetes Schiff ist für die einen eine Ressource und für die anderen ein Objekt, das ausrangiert werden muss. Für Schiffseigner ist ein seeuntüchtiges Schiff eine wirtschaftliche Belastung, die sie dringend loswerden wollen. Für eine Abwrackwerft ist ein veraltetes Schiff eine reiche Quelle für gebrauchten Stahl, der durch das Abwracken rasch gewonnen werden muss, wodurch das Abwrackunternehmen Gewinne erzielen und konkurrenzfähig wirtschaften kann. Für die in den Abwrackwerften beschäftigten Arbeiter*innen1 bietet ein gestrandetes Schiff an der Küste eine stetige Beschäftigungsmöglichkeit für mindestens vier bis fünf Monate. Für die Händler*innen, die mit gebrauchten Produkten handeln, bringt ein rostiger Schiffsrumpf tonnenweise verschiedene Gegenstände mit sich, die im Inneren des Schiffes vorhanden sind und die in die lokale Wirtschaft zurückgeleitet werden können.

Ship scrapping in progress at Alang shipbreaking yards. © Ayushi Dhawan, June 7, 2018.

Unter Schiffsabwrackung versteht man die Demontage eines Schiffes zum Zwecke der Verschrottung oder Entsorgung, unabhängig davon, ob sie an einem Strand, einer Pier, einem Trockendock oder einer Abwrackwerft durchgeführt wird.2 Schiffsabwrackung umfasst eine breite Palette von Tätigkeiten, von der Entfernung aller Arten von Maschinen und Ausrüstungen bis hin zum Abwracken des Schiffskörpers. Die Schiffsabwrackungsindustrie entwickelte sich zunächst in den USA, in Grossbritannien und in Japan während des Zweiten Weltkriegs, da aufgrund des Krieges eine grosse Anzahl beschädigter Schiffe verfügbar war und gleichzeitig ein dringender Bedarf an Stahl bestand. NS Mohan Ram weist darauf hin, dass die Ursprünge der Schiffsabwrackungsindustrie jenen der Autoschrottindustrie ähneln: Autos wurden mit Hämmern und Äxten in ihre Einzelteile zerlegt. Die Teile wurden mit Walzen zerkleinert und per Bahn zu Stahlwerken transportiert.3 In den 1970er bis 1980er Jahren verlagerte sich die Branche in weniger industrialisierte europäische Länder wie Spanien und Italien. Die Schiffsabwrackzentren hingegen verlagerten sich nach Südostasien: zunächst nach Taiwan, Südkorea und China. Doch seit 1991 sind Indien, Bangladesch und Pakistan die führenden Abwrackländer, auf die 70 % der weltweit abgewrackten Tonnage entfallen. Die steigende Nachfrage nach Stahl in den sich entwickelnden Binnenmärkten, laxe Umweltvorschriften, mangelndes Bewusstsein für die Gefahren giftiger Abfälle sowie billige Arbeitskräfte haben diese Verlagerung der Schiffsabwrackungsindustrie vom globalen Norden in den globalen Süden begünstigt und weiter verstärkt.

Die Nichtregierungsorganisationen Greenpeace International und Basel Action Network (BAN) haben zwischen 1989 und 2005 Kampagnen gegen die Abwrackindustrie in Industrie- und Entwicklungsländern Kampagnen durchgeführt. Sie argumentierten, dass die Verlagerung der Abwrackindustrie aus Industrieländern in Entwicklungsländer mit dem Ende der kommerziellen Lebensdauer jener Schiffe zusammenfiel, die von den Organisationen als die giftigsten Schiffe aller Zeiten bezeichnet werden. Denn vor allem Schiffe, die vor den 1970er Jahren gebaut wurden, enthielten Stoffe wie Asbest, Schwermetalle, polychlorierte Biphenyle (PCB), Tributyl (TBT), Fluorchlorkohlenwasserstoffe (FCKW) und radioaktive Stoffe. Aufgrund ihrer schädlichen Auswirkungen auf die Werftarbeiter*innen und der nachteiligen Folgen für die Umwelt wurde die Verwendung dieser Stoffe in der Schiffbauindustrie des globalen Nordens jedoch nach und nach verboten. Einige der Stoffe wie Asbest, Schwermetalle, PCB und TBT werden als krebserregend eingestuft.

Die verschiedenen Stakeholder der Abwrackindustrie sagen, dass das Abwracken von Altschiffen die Wiederverwendung wertvoller Materialien ermöglicht, wodurch der Bedarf an neu geförderten Eisenerzen und Edelmetallen sowie Treibhausgasemissionen und Umweltverschmutzung verringert werden kann. Zweifellos bleibt die Branche ein wichtiger Lieferant von gebrauchtem Stahl und Waren für die Volkswirtschaften Südasiens. Es gab jedoch auch immer wieder Gespräche zwischen Umweltschützer*innen und Vertreter*innen der Schiffsabwrackindustrie über die Art und Weise, wie die Abwrackarbeiten an den offenen Stränden der südasiatischen Länder, insbesondere in Indien, Bangladesch und Pakistan, durchgeführt werden sowie über die prekären Arbeitsbedingungen der Wanderarbeiter*innen und die ökologischen Auswirkungen auf die lokalen Ökosysteme. Die Abwrackwerften von Alang im nordwestlichen Bundesstaat Gujarat sind bekannt als die grössten Abwrackwerften der Welt. Aufgrund ihrer geografischen Lage – insbesondere der Nähe zu den Haupthandelsrouten in Richtung Osten, dem hohen Tidenhub, einer Neigung des Strandes von 15°, die es Schiffen erleichtert, auf Grund zu laufen, und einer felsige Bodenoberfläche – bieten sie erhebliche Vorteile. Veraltete Schiffe, die zum Abwracken in Alang ankommen, werden in erster Linie nach Gewicht an Abwrackunternehmen verkauft, und zwar auf zwei Arten: entweder direkt oder über zwischengeschaltete Unternehmen, die gemeinhin als cash buyers bekannt sind. Alle Arten von Altschiffen, darunter grosse Supertanker, Linienschiffe, Rohöltanker, RoRo-Schiffe, Tiertransporter und Containerschiffe, machen ihre letzten Fahrten zu diesen Werften.

Sobald das Schiff am Ankerplatz in Alang, zentral gelegen im Arabischen Meer, ankommt, inspizieren es Beamte der Zollbehörde an Bord eines Schleppers, bevor sie dem Schiff die Einfahrt in die Hoheitsgewässer von Alang erlauben. Nachdem das Schiff zum Abwracken angenommen wurde, werden alle Funk- und Kommunikationsgeräte im Inneren des Schiffes von den Arbeiter*innen zerstört, um, aus Gründen der nationalen Sicherheit, zu verhindern, dass diese von Unbefugten weiterverwendet werden können. Funk- und Kommunikationsgeräte im Wert von Millionen von Rupien werden in kleine Stücke gehämmert, damit sie nicht wieder zusammengebaut werden können, und danach an die Eigentümer*innen zurückgegeben.4 Funk- und Kommunikationsgeräte erleben demnach im Gegensatz zu anderen elektronischen Geräten, die auf den Second-Hand-Märkten in Alang zur Wiederverwendung angeboten werden – sowohl drahtlose als auch UKW-Geräte – ein ganz anderes Schicksal.

Die Schiffe, die an der Küste von Alang ankommen, werden bei Flut gestrandet und von Arbeiter*innen an das Ufer geschleppt, sobald die Flut zurückgeht. Das Stranden ist ein unumkehrbarer Prozess. Nach dem Stranden kann ein Schiff nicht mehr aus eigener Kraft fahren. Alle Arbeiten nach dem Stranden des Schiffes finden direkt an der Küste von Alang statt. Das Abwracken beginnt mit dem Abschalten des Motors, dem Abwerfen der Anker auf den Meeresgrund und dem vollständigen Abschalten des Stroms an Bord des Schiffes. Ein regelrechtes Heer von Arbeiter*innen geht dann an Bord des Schiffes, um es von seiner Ausstattung zu befreien, zu der Elektronik, Möbel, Kochgeschirr, Maschinen, Leitungen, Sanitäranlagen und viele andere Gegenstände gehören, die später auf Secondhand-Märkten in der Nähe des Strandes verkauft werden. Das Schiff wird dann Stück für Stück zerlegt; die Arbeiter*innen beginnen mit dem vorderen Teil und arbeiten sich allmählich bis zum Ende vor. Selbst die unbezwingbarsten und stabilsten Schiffe werden innerhalb weniger Monate durch die mühsame Arbeit der Arbeiter*innen zerlegt, die dafür eine Vielzahl von Werkzeugen und Maschinen wie Vorschlaghämmer, Acetylenbrenner, Winden und Kräne anwenden.

Electronic items ranging from ship generators, hair dryers, and air compressors being sold at the local second-hand markets. © Ayushi Dhawan, June 5, 2018.

Auf beiden Seiten der Strasse, die zu den Abwrackwerften in Alang führt, reihen sich auf einer Länge von etwa 10 km Secondhand-Märkte aneinander. Auf diesen Märkten findet man alle wiederverwendbaren Teile eines Schiffes, von Konsumgütern wie Möbel, Bücher, Elektronik, Geschirr und Teppiche bis hin zu Küchengeräten wie Toaster, Öfen und Spülbecken, Elektronik und Maschinen wie etwa Motoren, Generatoren und Kompressoren sowie Rettungsausrüstung. Händler, die mit verschiedenen Gebraucht-gegenständen handeln, inspizieren das gestrandete Schiff. Sie verhandeln mit den Schiffsabwrackern über das gesamte Warenangebot in ihrer jeweiligen Kategorie. Der blühende Handel mit allen Arten von Gebrauchtwaren in Alang zieht Hoteliers, Fabrikbesitzer*innen, Kunstsammler*innen, Innenarchitekt*innen, Schiffsliebhaber*innen, manchmal auch Käufer*innen aus Übersee und Industrielle aus verschiedenen Städten wie Delhi, Punjab, Chennai und Hyderabad an, die nach den in den Schiffen vorhandenen Objekte suchen. Die Märkte für gebrauchte Elektronik in Alang sind in letzter Zeit auch bei YouTube-Vloggern aus Gujarat und von anderswo sehr beliebt. Diese drehen viele Videos über die unterschiedlichen, gebrauchten Produkte, die aus den ausrangierten Schiffen entnommen werden.5 Die elektronischen Produkte reichen von Lufttanks über Kupferdrähte, Luftkühler, LED-Leuchten, Glühbirnen, Haartrockner, Maschinerie zum Starten von Motoren, Schädlingsbekämpfungsgeräten, Ventilatoren, Klimaanlagen, bin hin zu Heizgeräten usw. Die meisten dieser Produkte stammen aus dem Ausland und werden von Unternehmen wie Siemens aus Deutschland, Mitsubishi und Hitachi aus Japan, Schneider aus Frankreich usw. hergestellt.

Da diese Produkte im ganzen Land für industrielle und landwirtschaftliche Zwecke weiterverwendet und häufig in afrikanische Länder und die Golfstaaten exportiert werden, sind sie stets sehr gefragt. Was die Qualität angeht, so bürgen die Gebrauchthändler*innen für ihre Produkte. Sie betonen regelmässig, dass diese Produkte in Indien nicht leicht erhältlich und dass sie von guter Qualität seien, weil Schiffswerften im Westen erstklassige Ausrüstung in den Schiffen verwenden, um Reparaturen während der Nutzungsdauer des Objekts zu minimieren. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Arbeiter*innen in Alang eine unverhältnismässig hohe Last an Giftmüll aus dem globalen Norden zu tragen haben, während die lokale Wirtschaft von der Vermarktung gefährlicher Materialien, der Schaffung von Arbeitsplätzen und der Gewinnung von Stahl und gebrauchten Materialien aus den nicht mehr seetüchtigen Schiffen profitiert.

Der Text wurde von Ayushi Dhawan für Vigia verfasst und durch Jonas Wenger aus dem Englischen übersetzt.

Ayushi Dhawan arbeitet an ihrer Promotion am Rachel Carson Center for Environment and Society in München, Deutschland. Sie ist Mitglied der Emmy Noether Research Group «Hazardous Travels Ghost Acres and the Global Waste Economy», wo sie sich auf den Handel mit Sondermüll, soziale Ungleichheiten, Schrottrecycling und Umweltaktivismus konzentriert.

References
1 In der Abwrackindustrie wird die mühsame Arbeit des Abwrackens von Schiffen von Männern erledigt, während Frauen an den Anlegeplätzen beschäftigt sind, um Gegenstände zu transportieren, die direkt nach dem Anlegen aus den Schiffen geholt werden. Ausserdem gibt es an den Strassenrändern kleine, von Frauen geführte Essensstände. In diesem Text werden inklusive geschlechtsneutrale Begriffe verwendet, um sichtbar zu machen, dass nicht ausschliesslich Männer in der Industrie arbeiten. Das soll aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Industrie durchaus geschlechtsspezifisch strukturiert ist und die überwiegende Mehrheit der Beschäftigten Männer sind.
2 Demaria, Federico: Shipbreaking at Alang-Sosiya (India): An Ecological Distribution Conflict, in: Ecological Economics 70 (2), 2010, S. 250.
3 Ram, Captain NS Mohan: Recycling End of Life Vehicles: With Special Focus on India and Developing Nations. Chennai, 2018, S. 33.
4 «Alang Shipbreaking. DAT.». ‹https:// www.youtube.com/watch?v=bnoTAeUY3Yc&ab_channel=ChandrakantBarve›, Stand: 1.9.2022.
5 Tiles King Mbtv: Alang Market Ship Use and Unused Electric Equipment Motor/Starter/ Panel Board/MCB/ELCB, ‹https://www.youtube. com/watch?v=uioNtyaMz1Y&list=PLIC_VrX vQQzRp_lW6LvGN0dtXotsN60vo&ab_channel= TILESKINGMBTV›, Stand: 2.9.22.; Mukesh Vlogs: Alang Market, Alang Tools Market, Dhara Traders, Alang Gujarat, Alang Bhavnagar, ‹ https://www.youtube.com/watch?v=D48bH9N QC3M&ab_channel=MukeshVlogs › Stand: 2.9.22.; Village Boy: Alang Ship ka Origenal Te- bale Fan Market Ekdum Sasta. YouTube. Stand: 2.9.22.