Zwischen Heteronormativität und Gruppensex mit Aliens
[Abstract] Kann es authentischen Sex in der Virtualität geben? Immer mehr Angebote stehen dazu bereit. Manches davon reproduziert etablierte Porno-Konventionen und wirft Fragen bezüglich sexualisierter Gewalt auf. Und auch das Zielpublikum ist meist männlich und heterosexuell. Doch queeres Modding verspricht Abhilfe hiervon.
1992 wagte das Magazin Future Sex einen Blick in die ferne Zukunft. 2020, so mutmassten die Autor*innen, würde die Menschheit im Zeitalter des ‹ Orgasmatron › leben, eines Spezialhelms, der Informationen und Reize direkt in das Gehirn einspeisen, die Gehirnchemie beeinflussen, und virtuellen Sex so realistisch machen würde, dass er der echten Erfahrung in nichts mehr nachstünde.
Diese Hoffnung hat sich nicht erfüllt. Obwohl VR-Headsets zunehmend Einzug in Eigenheime halten und auch das Content-Angebot wächst, sind wir nach wie vor weit davon entfernt, authentischen Sex in der virtuellen Realität zu erleben. Zwar gehört VR-Pornografie laut dem Branchenriesen PornHub zu den Kategorien, deren Popularität in den letzten Jahren am deutlichsten zugenommen hat, weswegen immer mehr Produktionsfirmen auf den Hype-Zug aufspringen. Doch sowohl formal wie auch inhaltlich hat sich das Angebot in den letzten Jahren kaum weiterentwickelt und vor allem nicht von der klassischen, filmbasierten Pornografie emanzipiert.
Sex mit der Sekretärin
Ein typischer VR-Porno im Jahr 2022 sieht so aus: Wir schlüpfen in die Rolle eines Geschäftsmannes, der von seiner Sekretärin verführt wird. Kaum betritt sie das Büro, kann sie dem Reiz seines Körpers kaum noch widerstehen und gibt sich ihm schliesslich hin, entkleidet ihn, nimmt seinen Penis sehnsüchtig seufzend in den Mund, führt diesen anschliessend in ihre Vagina ein und streichelt beim Sex laut jauchzend und stöhnend das Ego ihres Chefs, der sie « so verdammt geil fickt ». Wirkt vertraut? Ist es auch.
In der virtuellen Realität werden mehrheitlich Geschichten – und damit auch Geschlechterrollen – reproduziert, die den Porno bereits seit Jahrzehnten begleiten. Neu ist lediglich, dass sich die Konsument*innen direkt in das Geschehen versetzen und es aus den Augen eines Pornodarstellers betrachten können, dem für die Dauer des Drehs eine Kamera vor das Gesicht montiert wurde. Dieser Wechsel von der Voyeurs- in die Protagonistenperspektive bringt jedoch eine Reihe von Problemen mit sich, unter anderem auf der sensorischen Ebene. Während die Anwesenheit eines anderen Menschen dank hoher Bildauflösung und Raumakustik audiovisuell überzeugend vorgegaukelt wird, fehlen andere Sinneseindrücke umso auffallender. Reize, die beim Sex eigentlich eine zentrale Rolle spielen.
Haptik-Handschuhe und Riech-Einheiten
Sieht man ein Gesicht direkt vor sich, das zu einem Kuss ansetzt, ohne den Körper und seine Wärme zu fühlen, ist das eher Auslöser von Irritation als von erotischer Simulation. Das Gehirn wird durcheinandergebracht, weil es widersprüchliche Signale empfängt. Seit Jahrzehnten schon versuchen Start-Ups, dieses zentrale Problem der VR-Technologie zu lösen, scheitern aber in der Regel ebenso schnell, wie sie ihre grossen Versprechen teilen und Crowdfunding-Kampagnen zur Finanzierung ihrer Projekte aufsetzen. Nicht wenige dieser Zu- und Aufsätze für VR-Geräte wirken zudem eher unfreiwillig komisch als sexy: Eingepfercht zwischen einer Geruchseinheit, die mittels ätherischer Öle olfaktorische Erlebnisse von ‹ Frauengeruch › bis zur japanischen Nudelsuppe verspricht, vollverdrahteten ‹ Haptik-Handschuhen › und schweren Westen mit eingenähten Motoren, dürfte es den meisten Menschen schwer fallen, richtig in Stimmung zu kommen.
Bewährt hat sich bislang nur die Integration USB- und Bluetooth-kompatibler Sexspielzeuge wie künstlicher Vaginen oder Vibratoren. An einen PC angeschlossen, können diese von passender Software angesteuert werden und mittlerweile nicht mehr nur Signale ausgeben, sondern auch empfangen. In der Praxis bedeutet das: Nimmt der integrierte Sensor z. B. einen Stoss in eine künstliche Vagina wahr, überträgt er dieses Signal in einen interaktiven Porno und lässt unseren VR-Avatar die gleiche Bewegung ausführen. Und nimmt die virtuelle Partnerin den Penis in ihre Hand und reibt ihn, vibriert das Gerät oder massiert das Genital sanft.
Eine Session mit der virtuellen Domina
Doch selbst dieses Minimum an Interaktivität wird von den meisten Pornos nicht unterstützt. Anders verhält es sich bei digitalen Spielen: Diese bieten von Haus aus mehr Möglichkeiten, mit virtuellen Umgebungen zu interagieren, und die Unterstützung von Sexspielzeugen als Eingabegeräte verstärkt den Immersionseffekt noch weiter. Zudem finden manche Entwickler*innen clevere Möglichkeiten, die Limitationen des Mediums geschickt zu umgehen. Ein Beispiel hierfür ist der Dominatrix Simulator, in dem die Spieler*innen einer Reihe von Dominas begegnen und ihren Befehlen folgen müssen, um sich Lob und Belohnungen zu verdienen (oder Strafen für Fehlverhalten entgegenzunehmen).
Der Clou: In den meisten dieser Begegnungen findet keinerlei Körperkontakt statt. Die erotische Spannung wird dadurch erzeugt, dass sexy gekleidete Frauen Befehle geben, die es mit vollem Körpereinsatz umzusetzen gilt. So werden die Spieler*innen dazu aufgefordert, vor ihren Herrscherinnen niederzuknien, sich wie ein kleiner Hund auf den Rücken zu legen und alle Viere von sich zu strecken, oder in einem gut gefüllten Hörsaal vor den Augen eines virtuellen Publikums zu masturbieren. Und all das bevorzugt nackt, um das Gefühl einer echten Session zu simulieren, wie die Entwickler*innen im Tutorial empfehlen. Trotz comichaft abstrahierter Grafik entsteht so eine starke Präsenz (sowohl der dominanten Partnerinnen als auch des Selbst) im virtuellen Raum.
Endlose Möglichkeiten
Diese Präsenz zu erzeugen, gelingt auch Heat, trotz der ungewöhnlicheren Prämisse des Spiels, das Sex mit anthropomorphen Tieren simuliert und sich an die sogenannten ‹Furrys› als Zielgruppe richtet. Neben der freien Bewegung durch den dreidimensionalen Raum bietet das Spiel interaktive Sexszenen an, vom Glory-Hole-Handjob in der Clubtoilette bis hin zum Sex aus Ego-Perspektive, bei dem Spieler*innen eine passive oder aktive Rolle einnehmen können. Die aufwändig animierten Figuren wirken trotz starker Stilisierung lebensnah, körperlich präsent, greifbar. Zwar stellen sich in diesen intimen Momenten die gleichen Probleme wie beim klassischen VR-Porno – dass Berührungen, wenn überhaupt, nur umständlich simuliert werden können – doch Heat zeigt auf andere Weise eindrücklich, welches bislang wenig genutzte Potenzial noch im Medium schlummert. Denn anders als im Pornofilm kann im 3D-modellierten Raum im Prinzip alles dargestellt, jede Fantasie Realität werden: Vom Gruppensex mit Anime-Figuren über Geschlechtsverkehr mit glibbrigen Ausserirdischen auf der Brücke eines Raumschiffs bis hin zum erotischen Date mit einem Filmstar.
Doch diese schier unbegrenzten Möglichkeiten werfen auch Fragen auf: Darf man alles darstellen, nur weil es geht? Wo zieht man die Grenze? Wo wird etwa das Persönlichkeitsrecht und die Selbstbestimmung über den eigenen Körper berührt? Wie wichtig es ist, diese Fragen kritisch zu reflektieren, zeigt der Fall Virt-A-Mate. In dieser hochkomplexen Software können 3D-Modelle erstellt, nach Belieben verändert, und mit ihnen interaktive VR-Pornos gedreht werden. Das Programm selbst bietet eine Vielzahl von Optionen und Schiebereglern, mit denen sich Gesichter modellieren lassen, auch wenn diese mitunter steif und unnatürlich wirken.
Sex mit der Ex
Eine populäre Lösung für dieses Problem sind spezielle Algorithmen, die – auf Grundlage von Fotos – echte Gesichter auf animierte 3D-Modelle projizieren können: Deepfakes. In den Virt-A-Mate-Communities teilen zahlreiche User*innen Bilder oder sogar importierbare 3D-Modelle, die Schauspielerinnen ebenso nachempfunden sind wie weiblich gelesenen Personen aus ihrem persönlichen Umfeld. Vielfach lassen sich diese von ihren realen Vorbildern kaum noch unterscheiden. Virtueller Sex mit Taylor Swirft, Margot Robbie oder einer Ex-Freundin (der eigenen oder der eines fremden Menschen) rückt somit in greifbare Nähe und wird mit zunehmendem technologischen Fortschritt immer realistischer. Diese Entwicklung öffnet Tür und Tor für eine neue Dimension sexualisierter Gewalt, die weiblich gelesenen Personen ihrer körperlichen Autonomie beraubt und ihre virtuellen Ebenbilder der ganzen Welt zur freien (sexuellen) Verfügung stellt.
Doch die ethischen Fragestellungen setzen nicht erst dort an, wo echte Menschen zu Sexobjekten degradiert werden. So sind zum Beispiel in der Pornografie Szenarien beliebt, in denen zumeist erwachsene Männer Sex mit minderjährigen Frauen haben. Solche Videos, die sich in Kategorien wie ‹Teen› oder ‹Stepsister› auf jeder Porno-Seite finden lassen, werden zwar stets mit volljährigen Performer*innen gedreht, doch eindeutig erkennbar ist das nicht immer, wenn die jungen Frauen durch Kleidung, Frisuren und ihre Stimmen gezielt kindlich inszeniert werden. Durch die intensivere Immersion und die Möglichkeit, direkt mit dem (bzw. der) Gezeigten zu interagieren, könnte die Notwendigkeit entstehen, gegenwärtige Porno-Konventionen zunehmend zu hinterfragen. Das gilt für ‹ Underage ›-Content ebenso wie für fiktive Darstellungen sexualisierter Gewalt.
Ein sicherer Raum, um sich auszuprobieren
Die schöne, neue VR-Pornowelt bringt also auf der technischen wie inhaltlichen Ebene ganz neue Herausforderungen mit sich. Damit gehen allerdings auch zahlreiche Chancen einher, die sich produktiv nutzen lassen. Entsprechend sorgfältig produzierte und kuratierte Inhalte vorausgesetzt, könnte die Technologie etwa für die Sexualaufklärung genutzt werden und es sexuell unerfahrenen Menschen oder solchen mit Traumaerfahrungen ermöglichen, sich in einem sicheren, privaten Raum an das Thema heranzutasten. Schon jetzt bietet die virtuelle Realität queeren Menschen die Möglichkeit, sich in verschiedenen Rollen bzw. Identitäten auszuprobieren, Geschlechterwechsel zu vollziehen und Sex so aus verschiedenen Perspektiven zu erleben.
Auch Sexualtherapeut*innen und Sexualbegleiter*innen, die sich vermehrt mit diesem Themenbereich auseinandersetzen, sehen vor allem Nutzungspotenziale für Menschen mit körperlichen oder psychischen Einschränkungen, für die das Ausleben ihrer sexuellen Bedürfnisse mitunter schwierig sein kann – gerade in Zeiten einer Pandemie, die körperliche Distanz als zentrale Schutzmassnahme erfordert. Seit dem Frühjahr 2020 hat sich aufgrund dieser besonderen Umstände zudem ein erheblicher Teil der Sexarbeit in den virtuellen Raum verlagert. Performer*innen und Sexarbeitende bieten längst nicht mehr nur Foto- oder Videomaterial zum Download an, sondern auch Möglichkeiten, direkt mit ihnen in Kontakt zu treten. Durch die Verknüpfung von VR-Technologie und computer- oder appgesteuertem Sexspielzeug lassen sich sexuelle Dienstleistungen anbieten, die zwar (noch) nicht den Besuch im Bordell oder Hotelzimmer ersetzen können, aber den Kund*innen das Gefühl geben, direkter involviert zu sein.
Oder vielmehr den Kunden. Denn egal ob klassischer Pornofilm, interaktive Spielwelt oder VR-Sex mit einem echten Menschen: Auffällig ist, dass sich ein Gros der Angebote nach wie vor an ein cis-männliches, heterosexuelles (und weisses) Publikum richtet, Frauen oder queere Menschen als Zielgruppen hingegen kaum wahrgenommen werden. Im Zentrum des Geschehens stehen fast immer normschöne Cis-Frauen, die sich dem ‹ Male Gaze › (und dem männlichen Körper) zur Verfügung stellen. Während der klassische Pornofilm zumindest theoretisch die Möglichkeit bietet, das Geschehen als Voyeur*in ohne festgelegte Geschlechtsidentität zu beobachten, festigt sein VR-Äquivalent die männliche Perspektive durch den Körper, der im Film aus der Ich-Perspektive zu sehen ist. Senkt man den Kopf, so blickt man in aller Regel auf einen männlich gelesenen Körper – und einen Penis.
Queer-Modding gegen den Status Quo
Langsam jedoch gerät die Cis-Heteronormativität auch hier ins Wanken. Einen grossen Beitrag dazu leistet die zunehmende Verbreitung der VR-Technologie und ihr Eintritt in den medialen Mainstream, durch den die erforderliche Technik immer erschwinglicher wird. Auch für Porno-Produzent*innen. Diese ‹Demokratisierung› – wie sie zuvor bereits im Film und im Gaming durch günstigere, leichter zu bedienende Technik stattgefunden hat – führt zu inhaltlicher Vielfalt, da nicht mehr nur wenige, hochsubventionierte Firmen bestimmen, was produziert und wer als Zielgruppe bedient wird. Hinzu kommt eine stetig wachsende queere Modding-Community, die digitale Sexspiele durch individualisierte Inhalte ergänzt und an die eigenen Bedürfnisse anpasst. Ein VR-Game bietet standardmässig keine Optionen für schwule Männer? Kein Problem: Mit Skripten, eigens angefertigten 3D-Modellen und angepassten Dialogtexten lässt sich das ändern, technisches Know-How vorausgesetzt.
Auch wenn Future Sex mit seiner Zukunftsprognose einst weit danebenlag, ist zu erwarten, dass sich die virtuelle Realität in den kommenden Jahren weiterentwickelt und neue spannende Experimente hervorbringen wird. Dass mittlerweile einige bewährte Verfahren für die Produktion von VR-Pornografie existieren, macht die Arbeit für Regisseur*innen wie Spieleentwickler*innen deutlich einfacher und Statistiken zeigen, dass diese Arbeit dank entsprechender Nachfrage immer lukrativer werden könnte. Doch so sehr sich Marketing-Hypes und Panikmache in ein entsprechendes Zukunftsszenario hineinzusteigern versuchen: Dass der Sex in der virtuellen Realität den echten überzeugend emulieren oder gar ablösen wird, ist vorerst wohl nicht zu erwarten.