Holocaust-Erinnerung in virtuellen Realitäten
[ Jonas Wenger ] Die Frage nach konkreten Anwendungsgebieten für Virtual Reality Technologien beschäftigt uns in der ersten Ausgabe von Vigia. Erinnerungskultur ist ein Feld, in dem VR bereits Anwendung findet und zukünftig noch viel häufiger anzutreffen sein wird. Insbesondere die Diskussion um VR Anwendungen zur Visualisierung von Holocaust-Erinnerungsstätten und ehemaligen Konzentrationslagern spielen dabei eine Rolle, sowohl für uns als linkes Technologiemagazin als auch für mich persönlich als jüdischer Historiker. Um die Bedeutung von VR in der Holocausterinnerung und die damit verbundenen Gefahren und Potentiale für eine solidarische Erinnerungspraxis zu diskutieren, haben wir mit Steffi de Jong, Victoria Grace Walden und Christian Günther drei Expert*innen eingeladen. Beginnen wir mit einer kurzen Vorstellungsrunde: 1
[ Steffi de Jong ] Ich beschäftige mich schon sehr lange mit der Frage, wie Medien für die Erinnerung an den Holocaust und den Zweiten Weltkrieg genutzt werden. In meiner Dissertation untersuchte ich den Einsatz von Zeitzeug*innenvideos in Museen und Ausstellungen. Heute kann man sich eine Ausstellung zum Holocaust kaum noch ohne solche Videos vorstellen. Als ich 2008 mit der Recherche anfing, war dieser biographisch-mediale Ansatz aber noch relativ neu. Kurz nachdem ich die Dissertation beendet hatte, entwickelte die USC Shoah Foundation ihren ersten virtuellen Zeitzeugen.2 Die Idee war, die Erfahrung des direkten Austauschs mit Holocaustüberlebenden mit Hilfe digitaler Technologien zu reproduzieren.
Was mich an solchen Projekten interessierte, war die Idee der Unmittelbarkeit, die damit erreicht werden sollte, sowie die Frage, wie sich diese Idee in eine lange Mediengeschichte der Erinnerung an den Holocaust einfügt. Tatsächlich finden wir seit 1946 eine Tendenz, das jeweils neueste Medium als besonders geeignet für die Bewahrung und Vermittlung der Erinnerungen der Überlebenden anzusehen. David Boder nutzte 1946 den damals neuen Drahttonrekorder, weil er davon ausging, dass dieser es besonders gut erlauben würde, die Stimmen und Erinnerungen der Überlebenden, die er in den DP Camps interviewte, zu bewahren. Ab 1979 nutzte das Fortunoff Video Archive for Holocaust Testimonies die Videotechnologie, weil es diese laut den Initiator*innen möglich machte, Unmittelbarkeit zu vermitteln.3 Die USC Shoah Foundation, das zweite grosse Videointerviewprojekt, fing 2008 damit an, seine Sammlung zu digitalisieren um die Interviews ‹ für die Ewigkeit › zu bewahren. Somit ist es eigentlich nur ein logischer Schritt, dass jetzt VR als Medium für die Erinnerung an den Holocaust zum Einsatz kommt.
[ Victoria Grace Walden4] Wie Steffi denke auch ich schon seit einiger Zeit über die Beziehung zwischen Medien und Holocaust-Erinnerung nach. Meine Doktorarbeit und meine erste Monografie konzentrierten sich auf verkörperte und materielle Begegnungen zwischen Nutzern*innen / Zuschauern*innen, analogen und digitalen Technologien. Ich interessierte mich besonders für die Berührungspunkte zwischen analogen, historischen Archiven und neuen digitalen Inhalten, zwischen denen meiner Meinung nach ein kritischer Raum (critical space) entsteht. In meiner Arbeit vertrete ich die Auffassung, dass wir uns stärker auf die Bedeutung dieser ‹ inbetweenness › konzentrieren müssen.
Derzeit konzentriere ich mich ganz auf digitale Erinnerung an den Holocaust und betreibe die Website und das ergänzende Forschungsprojekt www.digitalholocaustmemory.com. Auf dieser Website versuche ich, die vielfältigen, digitalen Projekte zu erfassen, die es derzeit gibt, um (hoffentlich) einen Beitrag zu künftigen Entwicklungen auf diesem Gebiet leisten zu können. Mein Interesse an den Möglichkeiten dieser ‹inbetweenness› bedeutet auch, dass ich den Mythen der ‹totalen Immersion› und ‹ totalen Interaktivität ›, die in Diskussionen über VR und Computerspiele häufig zu hören sind, sehr kritisch gegenüberstehe.
[ Christian Günther ] Mit Steffi und Victoria verbindet mich das gemeinsame Interesse an digitaler Geschichtsvermittlung und Erinnerungskultur. Als freiberuflicher Gedenkstättenpädagoge im NS-Dokumentationszentrum Köln habe ich in der Vermittlung veränderte Zugriffsarten auf die Geschichte des Nationalsozialismus von – vor allem jüngeren – Besucher*innen festgestellt und auch versucht, digitale Medien einzusetzen.
Mich fasziniert die mediale Überformung des physischen Ortes. Was passiert z. B. mit Nutzer*innen (und wie verhalten sie sich?), wenn sie, motiviert durch Spiele wie etwa Ingress oder Pokémon GO, zu Gedenkstätten geführt werden und dort interagieren müssen?
[ Jonas ] Was ist spezifisch am Einsatz von VR in Erinnerungskontexten gegenüber anderen Medien? Inwiefern müssen wir VR in diesen Zusammenhängen überhaupt separat von anderen audiovisuellen Erzählungen, wie etwa Filmen, betrachten?
[ Steffi ] Spezifisch an VR ist sicherlich das, was Entwickler*innen Immersion und Präsenz nennen. Zwar wurde Immersion auch schon im Zusammenhang mit anderen Medien, wie Panoramen, Filmen, Romanen, Museen usw. diskutiert und sicherlich ist es so, dass auch diese Medien eine körperliche und affektive Reaktion hervorrufen können. VR erlaubt dies allerdings auf einem ganz anderen Level. Durch immersive Technologien wird hier die Illusion erzeugt, dass sich die Nutzer*in körperlich in einem virtuellen Raum befindet, der auf sie reagiert und auf den sie reagiert. Viele von uns kennen Aufnahmen, die Menschen mit einer VR-Brille, dem sogenannten Head-Mounted Display (HMD) zeigen, die auf gerader Ebene auf einem Balken hoch über der Erde zu balancieren versuchen – weil dieser ihnen in der virtuellen Realität suggeriert wird. Wer sich in der virtuellen Realität auf einem Hochhaus befindet, dem wird schwindelig, auch wenn sie oder er weiss, dass sie oder er eigentlich ebenerdig steht. Neuro-psychologische Studien deuten an, dass das Gehirn die virtuelle Realität genauso verarbeitet, wie die eigentliche Realität. Nicht nur das, wir erinnern uns auch anders an das in der virtuellen Realität Erlebte, als zum Beispiel an einen Film, den wir gesehen haben.5 Selbst wenn die Interaktionsmöglichkeiten in vielen VR Erfahrungen noch relativ eingeschränkt sind, unterscheidet sich die Erfahrung in VR also von der, die wir machen, wenn wir andere Medien konsumieren.
Es ist hier vielleicht auch wichtig, sich daran zu erinnern, dass VR schon sehr früh vom Militär zum einen dafür genutzt wurde, um Soldaten auf ihren Kriegseinsatz vorzubereiten, zum anderen, um ihr posttraumatisches Stresssyndrom zu therapieren. Dass VR offensichtlich einen Einfluss auf unser Verhalten und unsere Erinnerung haben kann, bringt aber auch ethische Fragen mit sich.6 Im schlimmsten Fall könnte VR dafür genutzt werden, Menschen zu manipulieren.
[ Victoria ] Wie Steffi schon sagte, werden die Begriffe ‹Immersion› und ‹Präsenz› gewöhnlich verwendet, um die Besonderheit von VR zu beschreiben. Ich denke jedoch, dass wir diesen Begriffen gegenüber kritischer sein müssen, zumal sie nicht neu sind. Was als ‹VR for Good› bezeichnet wird – nämlich Dokumentar- oder Spielfilmproduktionen, die sich mit Menschenrechtsfragen befassen – sind oft kaum mehr als 360-Grad-Filme. Der Fokus auf ‹Immersion› und ‹Präsenz› hat dazu geführt, dass viele Institutionen VR als eine Art Erweiterung des Kinos betrachten. Obschon HMD-VR-Kits mit Hand-Controllern geliefert werden, müssen die Anwender*innen bei den meisten ‹VR for Good› Projekten relativ still sitzen und die Handlung ohne oder nur mit wenig Interaktion verfolgen. Damit reproduzieren diese die distanzierte Position der Kinobetrachter*in, anstatt die Nutzer*innen in den virtuellen Raum eintauchen zu lassen. Solche Ansätze ignorieren die technische Spezifität von VR.
Alison Griffiths hat ein hervorragendes Buch über Immersion und Interaktivität in Museen geschrieben. Sie verfolgt darin die Bedeutung dieser Konzepte in Museen zurück bis ins 19. Jahrhundert. In Shivers Down Your Spine betont sie, dass historische Immersionserfahrungen wie Panoramen, Wachsfigurenausstellungen und Jahrmärkte stets eine Verhandlung zwischen dem Anderswo und dem Hier und Jetzt beinhalteten.7 Wenn ich selbst ein HMD trage, frage ich mich oft, wo im Raum ich mich befinde. Dann schaue ich durch den Spalt zwischen der Brille und meinem Gesicht. Manchmal entsteht auch der Eindruck, dass ich in der VR falle. Anwender*innen klammern sich in solchen Situationen oft an ihre physische Umgebung, um einen Anker zu erhalten, der ihnen hilft, den Boden wieder zu finden.
[ Christian ] Die Erfahrungen der meisten Nutzer*innen hat sich insofern verändert, als dass sie sich in der digitalen VR Umgebung nicht in einer Gruppe bewegen, sondern alleine sind. Bisher gibt es noch keine Anwendung, die von mehreren Nutzer*innen gleichzeitig verwendet werden könnte, auch wenn das technisch schon machbar wäre. Neben den gruppendynamischen Prozessen beim Besuch einer Gedenkstätte passiert dort natürlich noch mehr. Die Gedenkstätte selbst ist ein mehrfach überformter Ort. Sowohl in medialer, aber auch in architektonischer und zeitlicher Hinsicht. Modernere Ausstellungen in Gedenkstätten versuchen, den Besucher*innen diese Mehrdimensionalität des Ortes durch verschiedene Gestaltungselemente, Ausstellungsstücke oder durch sogenannte «Zeitfenster», in denen bauliche Überreste vorhanden sind, zu vermitteln. Flankiert wird dies bei Gruppenbesuchen auch noch durch die unterstützte Begleitung gedenkstättenpädagogischen Personals.
In den veröffentlichten VR-Anwendungen, die ich bisher gesehen habe, fehlt meines Erachtens diese Ebene. VR eignet sich dafür – das hatte Steffi ja schon angedeutet – interaktive Erfahrungen und freie Entscheidungsmöglichkeiten anzubieten. Genau wie in den Ausstellungen auch, könnten hier vertiefende Ebenen eingebunden werden, etwa durch Dokumente, Tonaufnahmen, Filme und Fotografien. Vorstellbar wäre auch – und das hebt die VR-Anwendung von anderen audiovisuellen Erzählungen ab – unterschiedliche Szenarien für unterschiedliche Nutzer*innen zu gestalten.
[ Jonas ] VR wurde auch schon als « rich white kid of technology » bezeichnet, weil die Technologie stets scheitert, sich keine Anwendung dafür aufdrängt und dennoch munter weiter investiert wird. Sind Museen oder die Erinnerungskultur im Allgemeinen ein Ort der Anwendung, wo sich VR durchsetzen könnte? Wird VR den materiellen Erinnerungsort, den Besucher*innen bereisen, ersetzen?
[ Steffi ] Ich glaube nicht, dass VR den materiellen Erinnerungsort ersetzen wird. Ich denke eher, dass VR dazu führen wird, dass mehr Menschen diese Orte besuchen werden wollen. Wir dürfen auch nicht vergessen, dass der Grossteil der Weltbevölkerung sehr weit weg von den Orten der Erinnerung an den Holocaust lebt. Für diese Menschen würde VR es erlauben, die Orte zumindest in der virtuellen Realität zu besuchen.
Dass es für VR keine Anwendungen gibt, würde ich übrigens nicht unterschreiben. Einige neuropsychologische Forschungen dazu, wie VR als Therapiemöglichkeit im medizinischen Bereich, zum Beispiel für Schlaganfallpatient*innen angewendet werden kann, klingen vielversprechend.8 In der Archäologie wird VR bereits seit einiger Zeit erfolgreich dazu verwendet, zu erforschen, wie historische Orte ausgesehen haben könnten. Dieser Einsatz ist auch für die Erforschung und Erinnerung an den Holocaust erfolgversprechend. VR erlaubt es die ehemaligen Lagerstrukturen zu simulieren und zu erforschen. Zudem wird VR bereits in der Strafverfolgung – unter anderem der von NS-Tätern – angewendet.9
[ Victoria ] Die Tech-Industrie und ihre kulturellen Vermittler*innen (z. B. die Zeitschrift Wired) verfolgen obsessiv die Idee einer erweiterten, virtuellen Zukunft, was sich in dem Hype um das sogenannte ‹ Metaverse › zeigt. Ich bin nicht sonderlich begeistert von diesem. Und auch die öffentliche Resonanz scheint negativ zu sein: Jedes Mal, wenn ich es in einem Gespräch erwähnt höre, ächzen oder lachen die Leute. Ich gehe davon aus, dass wir, wie schon beim 3D Hype, ein zyklisches Auf und Ab der Technologie erleben werden. In der Tech-Industrie herrscht der Glaube vor, dass VR und / oder AR unsere Realität verbessern werden. Meiner Meinung nach ist das völlig unangebracht und naiv.10
Ich glaube nicht, dass VR oder AR jemals als Ersatz für physische Erinnerungsorte dienen werden. Einerseits können Nutzer*innen zwar an verschiedenen ‹ virtuellen Touren › in 360° teilnehmen. Diese gibt’s dann gestreamt auf Social Media Kanälen, auf aufgezeichneten Videos oder eben in HMD-VR Angeboten. Beispiele hierfür sind das Auschwitz-Panorama,11 das Anne-Frank-Haus VR und The Last Goodbye, die auf Occulus (Go und Gear bzw. Rift12) verfügbar sind. Solche Projekte wecken Neugier und ermutigen die Nutzer*innen, den eigentlichen Ort zu besuchen. Andererseits gibt es VR- und AR-Projekte, die vor Ort eingebettet sind, z. B. die Projekte von SPECS Lab, die eine Reihe von VR-Projekten für Gedenkstätten entwickelt haben, darunter Bergen-Belsen (Deutschland), Jasenovac Memorial (Kroatien) und Falstad (Norwegen) sowie die Liberation-App der Gedenkstätte Dachau. Diese Projekte setzen voraus, dass sich die Nutzer*innen tatsächlich vor Ort befinden, und sie ergänzen physische Überreste (oder deren Abwesenheit) durch Zeugenaussagen, Archivmaterial und historische Details.
[ Christian ] Ich glaube nicht, dass David Karpf, auf dessen Artikel im Wired du ja mit dem ersten Teil deiner Frage anspielst, gut argumentiert, wenn er Parallelen zu den 1980ern oder 90ern zieht. Der Technologiestandard und dessen Preise sind völlig andere, auch wenn die Hardware immer noch verhältnismässig teuer ist und es wenig attraktive Produkte gibt. Neben den Anwendungsgebieten, die Steffi schon geschildert hat, kenne ich fest implementierte Einsatzmöglichkeiten in der Metall- und Elektro-Industrie. Etwa für die Schulung von Mitarbeiter*innen, beispielsweise um Arbeitsunfälle zu verringern, Arbeitsroutinen zu verfestigen oder digitale Prototypen zu entwickeln. Ich glaube nicht, dass eine VR-Anwendung den materiellen Ort ersetzen wird. Vielmehr gehe ich davon aus, dass die Technologie gut genutzt werden könnte, um mehr auf die Nutzer*innen einzugehen.
[ Jonas ] Was sind eurer Meinung nach die Voraussetzungen für ein gelungenes VR-Projekt? Was wünscht ihr euch bzw. wo seht ihr Gefahren? Kennt ihr Beispiele, die ihr als besonders gut oder schlecht umgesetzt bezeichnen würdet?
[ Steffi ] Momentan werben noch viele Anbieter*innen damit, dass VR eine ‹ Zeitmaschine › sei oder, dass VR es erlauben würde ‹ history now › zu erleben.13 Oder eben mit Witness: Auschwitz, also damit, dass die Nutzer*innen zu Zeug*innen von Auschwitz werden können. Das ist ein Problem, denn natürlich wird niemand durch eine VR Erfahrung zu einer Zweitzeug*in. Was die Nutzer*in in VR sieht und / oder erlebt, ist immer nur die Version der Vergangenheit, die die Entwickler*innen ihr präsentieren wollen. Ein gutes VR Projekt würde meiner Meinung nach diese Spannung zwischen Darstellung und Dargestelltem offenlegen. Das kann zum Beispiel auf ästhetische Art und Weise passieren, indem man die Vergangenheit nicht photorealistisch darstellt, sondern Brüche in der Darstellung zugelassen werden. So nutzt beispielsweise die VR Erfahrung Lala, die von der USC Shoa Foundation produziert wurde, eine Comic Ästhetik.14 Hier wird die Geschichte eines Hundes erzählt, der seinen Besitzer*innen bis ins Ghetto gefolgt ist. Eine andere Möglichkeit, die Spannung zwischen der Vergangenheit und ihrer Darstellung aufzuzeigen ist, die VR Simulation durch Dokumente und Quellen zu ergänzen – vor allem auch mit solchen, die mit der Darstellung brechen. Auf diese Weise kann beispielweise eine zeitgenössische Fotografie oder ein Eintrag in ein Tagebuch zeigen, dass die Rekonstruktion eines Ortes noch nichts darüber aussagt, wie ein Ort von zeitgenössischen Akteur*innen genutzt wurde. Schlussendlich könnten Entwickler*innen den Produktionsprozess offenlegen – auch dies könnte innerhalb der Simulation dadurch geleistet werden, dass die genutzten Dokumente und Quellen präsentiert werden, oder aber, dass mehrere mögliche Rekonstruktionen einander gegenüberstellt werden.
Mein letzter Punkt entspricht übrigens Leitsatz 4 der Londoner Charta für die computergestützte Visualisierung von kulturellem Erbe. Leider wird dieser Leitsatz vor allem von kommerzielleren VR Anbietern sehr selten umgesetzt.15 Ein Anwendung, die viele der soeben genannten Punkte ganz gut verbindet, ist die oben von Victoria erwähnte Simulation des ehemaligen Lagerkomplexes in Bergen Belsen in AR. Hier sind die Barracken sehr schematisch dargestellt, in einem hellen grau gehalten, weil man sich einerseits nicht sicher war, welche Farbe die Fassaden genau hatten und wo sich Fenster und Türen befanden, und andererseits das immersive Erlebnis brechen wollte. An den unterschiedlichen Orten, die man als Nutzer*in besuchen kann, werden erklärende Texte, Quellen und Tondokumente eingeblendet. Die Entwickler*innen haben sich übrigens unter anderem für AR statt VR entschieden, weil AR es besser erlaubt, den Kontrast zwischen dem historischen Ort und der Rekonstruktion offenzulegen.16 Letzteres funktioniert aber natürlich nur, wenn die App, wie in diesem Fall, am historischen Ort angeboten wird. Für VR könnte man sich aber natürlich vorstellen, hybride Darstellung zu entwickeln, die einen 360° Film des historischen Ortes mit seiner Rekonstruktion kombiniert.
[ Victoria ] Ich stimme Steffi hier vollkommen zu! Ich habe grosse Probleme mit der populären Betrachtung von VR als ‹ Zeitmaschine › und ‹ Empathie-Maschine ›. Für mich muss ein sinnvolles VR-Erinnerungsprojekt folgende vier Eigenschaften enthalten: (1) die Körper der Benutzer*innen von historischen oder anderen repräsentierten ‹ Körpern › müssen unterschieden werden können, d. h. die Benutzer*innen sollten nicht Erfahrungen einer anderen Person übernehmen, als ob sie in deren ‹ Fussstapfen › treten würden oder ‹ an deren Stelle › wären. (2) Es sollte das ‹ responsive system ›, das hinter den VR-Projekten steht, in den Vordergrund gestellt werden. Die Interaktionen der Nutzer*innen mit dem System sollten auf sinnvolle Weise erfasst werden – jeder Klick sollte das System dazu veranlassen, auf die jeweilige Nutzer*in zu reagieren. Das System sollte also von seinen Nutzer*innen lernen, während die Nutzer*innen vom System lernen und so gemeinsam ein Erinnerungserlebnis schaffen, das für die spezifische Nutzer*in von Bedeutung ist. (3) Das System sollte transparent sein bezüglich Datennutzung und vorsichtig bei Zusammenarbeit mit Unternehmen, die nicht offenlegen, wie sie Daten nutzen. (4) Ausserdem sollte es vielschichtig und multimodal sein. Es gibt so viel Potenzial für die Integration einer breiten Palette von Quellen. Wir könnten mit VR Hypermuseen schaffen, in denen Material ausgestellt werden kann, das aufgrund begrenzter physischer Ausstellungsflächen in Lagerhallen verbannt wird. Es ist ausserdem denkbar, dass Nutzer*innen ständig zu den Projekten beitragen, so dass sich VR-Memory-Spaces stetig weiterentwickeln.
Wie ich bereits erwähnt habe, ist das Design vieler ‹VR for Good›-Projekte äusserst problematisch. Sie verstärken den ‹humanitären› oder ‹touristischen Blick› von Charity-Werbung oder investigativem Journalismus. Dadurch produzieren sie eine Form der medialen Zeug*innenschaft, die zum Beispiel Empathie mit Geflüchteten fördern soll. Dabei schaffen sie jedoch oft eine problematische Machtdynamik zwischen den Nutzer*innen, die einfach mal so in ein Flüchtlingslager und wieder zurück in ihr Wohnzimmer reisen können, und den Betroffenen, deren alltägliche Erfahrung präsentiert wird. Ein Beispiel dafür ist der berüchtigte Film Clouds Over Sidra, der unter anderem am WEF gezeigt wurde. Gegen Ende des Films scheint eine Gruppe von geflüchteten Kindern auf die Benutzer*in zuzurennen. Die Anwender*innen können auf sie herabschauen – so entsteht eine ‹ White Saviour › Position, die wir aus Charity-Werbung mit weissen Prominenten kennen, in denen diese als Helfer*innen von Kindern of Color präsentiert werden.
[ Christian ] Auf einer anderen Ebene würde ich mir wünschen, dass VR-Anwendungen mit Geschichtsinszenierungen in Gedenkstätten nicht als kurzfristige Projekte begriffen werden. Momentan scheint es mir so zu sein, dass diese Projekte nur durch kurzfristige Fördermittel finanziert und in relativ kurzer Zeit umgesetzt werden müssen. Kreativere Ideen und auch Ansprüche an Entwicklung, Design und Vermittlung lassen sich in so einem Rahmen nur selten umsetzen. Mit der Forderung, langfristige finanzielle Mittel für die digitale Transformation von Gedenkstätten bereitzustellen, schlage ich hier natürlich einen riesigen Bogen, hält man sich aber vor Augen, dass einige Gedenkstätten Microsoft Word als Objektdatenbank nutzen, wird dieses Problem vielleicht deutlicher.
Mittels eines Vergleichs mit einem digitalen Spiel wird meine Vorstellung einer idealen Anwendung etwas plastischer: In den meisten Spielen ist es möglich, sich den Schwierigkeitsgrad selbst festzulegen, in einigen Fällen passt sich das Spiel sogar dem spielerischeren Können an. Oft kann man auf eine Art von optionalem Assistenzsystem zurückgreifen, welches nützliche Hinweise gibt. Etwas ähnliches kann ich mir für VR-Anwendungen vorstellen. Die Nutzer*innen könnten einstellen, ob sie leichte Sprache und andere Hilfestellungen benötigen, ob sie viele Vertiefungsebenen wünschen. Es muss möglich sein, sich selbst irgendwie einzubringen und unterschiedliche Rekonstruktionen gegenüberstellen zu können.
[ Jonas ] Ist VR in Kontext der Holocaust Erinnerung eine Antwort auf das kommende Ende der Zeitzeug*innenschaft?
[ Steffi ] Ein klares Ja! Das wird sogar von den Entwickler*innen so vermittelt. Um ein Beispiel zu nennen: Daniele Azara, der Kreativdirektor von Witness: Auschwitz beobachtet über die Anwendung: «Witnesses from Auschwitz are disappearing because of their age. Books are not enough, movies are not enough – we have to be there, and with VR we can be.»17 VR reiht sich da allerdings ein in eine Reihe von Erinnerungsmedien ein, die alle als Reaktion auf das nahende Ende der Zeitzeug*innenschaft entwickelt wurden. Bereits die frühen Videointerviewprojekte hatten zum Ziel, dafür zu sorgen, die Erinnerungen der Opfer vor deren Verschwinden für zukünftige Generationen festzuhalten. Das wurde dann mit den virtuellen Zeitzeug*innen, die eine Unterhaltung zwischen den Opfern und nachkommenden Generationen simulieren sollen, noch einmal potenziert.
Interessant daran ist, welcher Stellenwert der Zeugenschaft für die Erinnerungskultur zugesprochen wird. Schon Aleida Assmann hat darauf hingewiesen, dass die Angst eines ‹ Mnemozids › – also die Angst davor, dass auf den Genozid eine Auslöschung der Erinnerung folgt, die Erinnerung an den Holocaust prägt.18 Es ist quasi so, also würde man versuchen, den normalen Prozess der Erinnerung, bei dem es nun mal so ist, dass irgendwann die Erlebnisgeneration verschwunden sein wird, auszuhebeln. Dem normalen Übergang zwischen dem, was Jan und Aleida Assmann kommunikatives Gedächtnis und kulturelles Gedächtnis genannt haben, versucht man entgegenzuwirken, indem zum Beispiel Zeitzeug*innen in der digitalen Realität künstlich am Leben gehalten werden, oder eben jeder in VR zu einer Zeitzeug*in werden soll, die dann die Erinnerung weiter tradieren wird. Paradoxerweise geht man dabei davon aus, dass der Fokus auf Zeugenschaft, der die jetzige Erinnerungskultur prägt, auch in Zukunft von Bedeutung sein wird. Nicht nur die Erinnerungen der Opfer, sondern auch die gegenwärtige Erinnerungskultur werden also in die Zukunft tradiert.
[ Victoria ] Meiner Einschätzung nach ist das zunehmende Interesse an VR für die Holocaust-Erinnerung charakteristisch für den Übergang von einer ‹ Ära der Zeug*innen › zu einem neuen Fokus auf räumliche und materielle Zeugenschaft. Natürlich waren Gedenkstätten und materielle Zeugnisse schon sehr bedeutend für die Erinnerung an den Holocaust. Doch wurden diese ‹ Dinge › selten selbst als ‹ Zeugen › betrachtet. Heute gibt es jedoch eine neue Sensibilität für die Geschichten, die uns nicht-menschliche Materialitäten über die Vergangenheit erzählen können.
Es scheint vielleicht paradox, dass HMD-VR uns von den physischen, materiellen Dingen wegführt und uns dann inmitten von virtuellen Repräsentationen positioniert, während VR gleichzeitig auch die Neugier für tatsächliche historische Sites und Objekte wecken kann. Letzteres offenbart, wie Repräsentationen uns zur materiellen Welt hinzuziehen vermögen. So fördern VR- und AR-Apps, die zur Erweiterung von Gedächtnisstätten entwickelt wurden, eine enge Beziehung zwischen der materiellen Umgebung und den Nutzer*innen. Ich bezeichne solche Begegnungen als ‹ archäologisch › – denn sie ermutigen uns, unter die heutige physische Erscheinung von Räumen und Dingen zu blicken, um ihre historischen Erfahrungen kritisch zu untersuchen.19
All das hat auch etwas ziemlich Unheimliches an sich: Holocaust-Überlebende werden noch lange nach ihrem Tod das tun, was als ‹ digitale Arbeit › bezeichnet werden kann. Entstehen dadurch neue ethische Fragen, über die wir nachdenken müssen? Welches Recht haben wir, die körperlichen Aufzeichnungen von Personen auf ewig zu nutzen? Es gibt ein wachsendes Forschungsgebiet, welches sich unter dem Schlagwort ‹Digital Afterlives› mit solchen Fragen zu befassen beginnt.
[ Jonas ] Ich habe Bedenken bezüglich der Idee einer grösstmöglichen Immersion zur Vermittlung von Geschichte. Haltet ihr die Sorge über eine vermeintlich unmittelbare Erfahrung in VR für begründet oder bleibt die Künstlichkeit der Situation und die Narration in den Anwendungen, die ihr kennt, wahrnehmbar?
[ Steffi ] Im Moment bleibt beides noch wahrnehmbar, was aber weniger an der Intention der Entwickler*innen liegt, sondern daran, dass die Technologie noch nicht ganz ausgereift ist. Alle VR Anwendungen, die ich analysiert habe, versuchen allerdings so gut es geht, die Lager fotorealistisch darzustellen und dabei einen Zeitzeug*innenschaft der Lager zu generieren – sei es indem sie die Nutzer*innen zu Besucher*innen eines leeren Lagers machen, sei es, indem sie sie in die Rolle eines Opfers versetzen. Ein solcher Ansatz, der nicht auf die Künstlichkeit der Situation aufmerksam macht, ist natürlich problematisch, weil er eben die oben erwähnte Diskrepanz zwischen der Darstellung und der dargestellten Vergangenheit nicht offen legt.
Allerdings bedeutet für mich ein immersives Erlebnis nicht zwangsläufig, dass kritische Reflexion dadurch ausgeschaltet wird. VR Entwickler*innen unterscheiden zwischen Immersion, ein Begriff, der sich im Fall von VR auf die Technologie bezieht, und Präsenz, dem individuellen Erlebnis von Anwesenheit in der virtuellen Umgebung, das mit Hilfe dieser Technologien generiert wird. Wie bereits der VR Pionier Mel Slater beobachtet hat, ist Präsenz eine sinnesgesteuerte und keine kognitive Illusion.20 Das heisst, ich fühle mich in der virtuellen Realität präsent, obwohl ich weiss, dass sie nur virtuell ist. Um auf das oben genannte Beispiel des Schwindelanfalls auf einem in VR simulierten Wolkenkratzer zurück zu kommen: ich fühle mich schwindelig obwohl ich weiss, dass der Wolkenkratzer nicht echt ist und ich gleichzeitig über die Irrationalität meiner Empfindungen reflektieren kann. Dazu kommt, dass Präsenz nicht heisst, dass die virtuelle Realität, in der ich präsent bin, eine direkte Simulation einer aktuellen oder vergangenen Realität sein muss. Ich kann mich zum Beispiel durchaus in einer Comicrealität präsent fühlen. Einer der ersten kommerziellen VR Filme, die produziert wurden, Henry, zeigte einen Igel, der sich in einen Luftballon verliebt.21 Das heisst, Präsenz wäre durchaus auch in einer VR Anwendung möglich, die ihren Darstellungscharakter reflektiert.
[ Victoria ] Ich glaube nicht, dass wir ‹ totale Immersion › erreichen werden, und ich glaube, dass wir Menschen über genügend kritische Fähigkeiten verfügen, um den Unterschied zwischen künstlicher und physisch erlebter Welt zu erkennen. VR ist in vielerlei Hinsicht immer noch eine computergestützte Erweiterung des Kinos. Es gibt bekannte mythische Erzählungen über die Anfänge des Kinos, als Zuschauer*innen (im berühmten Film der Brüder Lumière) vor einem herannahenden Zug angeblich so erschrocken waren, dass sie schreiend versuchten sich in Sicherheit zu retten. Tatsächlich aber können wir im Kino viszerale Effekte spüren – denkt z. B. daran, wie eure Haare sich manchmal aufstellen oder euer Herzschlag sich erhöht. Diese Empfindungen verstärken sich oftmals noch, wenn wir Filme im Dunkeln sehen. Auch von Fotografien wurde anfangs geglaubt, dass sie wahrhaftige Repräsentationen der Realität sind.
[ Jonas ] Der Begriff der Empathie steht in der Diskussion von VR Anwendungen, wie auch in ihrer Bewerbung oftmals im Zentrum. Wie geht ihr mit diesem Begriff um?
[ Steffi ] Ich finde den Begriff, so wie er im Kontext von VR angewendet wird, schwierig. Hier wird ja davon ausgegangen, dass Empathie auf einer Spiegelung der Erfahrungen beruhe: Nur wenn ich genau das erlebt habe, was du erlebt hast, kann ich mit dir Empathie empfinden. Allerdings wird es, erstens, nie möglich sein, eine Erfahrung in der virtuellen Realität zu reproduzieren. Zweitens sollte dies, vor allem wenn es sich um potenziell traumatisierende Erfahrungen handelt, auch nicht das Ziel sein. Wer würde denn freiwillig auch nur einen Tag in Auschwitz erleben wollen? Ich fände es deshalb wünschenswert, wenn Entwickler*innen mit einem komplexeren Empathiebegriff arbeiten würden. Die Emotionsforscherin Sara Ahmed spricht davon, dass Empathie ein Wunschgefühl (wish feeling) ist, weil ich eben nie genau wissen kann, was mein Gegenüber fühlt. Eine ‹ Ethik des Schmerzes › bedeutet für Ahmed deshalb, auf etwas zu reagieren, das ich nicht wissen kann, statt auf etwas, das ich weiss.22
Auch in der theoretischen Literatur zur Zeugenschaft des Holocaust wird immer wieder auf den Graben zwischen den Erfahrungen der Opfer und dem was Nicht-Zeug*innen davon verstehen können hingewiesen. Dies drückt sich zum Beispiel dem Begriff der ‹ sekundären Zeugenschaft › aus. Die sekundäre Zeug*in soll als Rezipient*in das Zeugnis der Überlebenden ermöglichen und dieses an weitere nicht-Zeug*innen weitergeben, sie darf sich jedoch nie mit den Überlebenden identifizieren.23 Der Historiker Dominik LaCapra spricht von einer ‹ empathischen Verunsicherung› (empathic unsettlement), mit der den Zeugnissen von Überlebenden begegnet werden müsse. Empathie steht für LaCapra im Widerspruch zu Identifikation und stellt eine « virtuelle, und nicht eine Stellvertretererfahrung dar, in der die emotionale Antwort einen Respekt für das Gegenüber und die Einsicht, dass dessen Erfahrungen nicht die eigenen sind, mit sich bringt.»24
Falls VR Entwickler*innen VR als ‹ Empathiemaschine › nutzen wollen, dann sollte es ein komplexes Verständnis von Empathie sein, das den Anwendungen zu Grunde liegt. Eines, das darauf zielt, Menschen zu ethischem Handeln zu bewegen, nicht weil sie potenziell traumatisierende Erfahrungen nun virtuell nacherlebt haben, sondern obwohl sie letztere nie vollständig verstehen können.
Schliesslich kann VR natürlich potentiell dazu genutzt werden, revisionistische Narrative zu vermitteln. In einigen Anwendungen soll die Nutzer*in die Rolle des Opfers annehmen – oder die einer nicht-involvierten Zeitzeug*in der Orte des Verbrechens. Dies ist insoweit problematisch, als dass dadurch die soziopolitischen Umstände, die den Genozid erst möglich gemacht haben, in den Hintergrund treten. Falls das Ziel der Erinnerung an den Holocaust, wie häufig postuliert, sein soll, dass etwas ähnliches nie wieder passieren soll, dann muss sich die Erinnerungskultur auch vermehrt der Frage zuwenden, wie denn ein Mensch zur Täter*in, Mitläufer*in oder schweigenden Zuschauer*in werden konnte.
[ Victoria ] Ich stimme Steffi hier vollkommen zu. Ich denke zudem, dass die gleiche unausgewogene Fokussierung auf ‹ Empathie › auch einen Grossteil des Diskurses über Zeug*innenschaft durchzieht. Für mich definiert Georges Didi-Huberman die Art von Erfahrung, die wir mit Holocaust-Erinnerungsprojekten hervorrufen wollen, am besten. Er beschreibt nämlich ein eigentümliches Gefühl zwischen ‹ Ähnlichkeit › und ‹ Unähnlichkeit ›.25 Demnach soll ich Holocaust-Opfer als mir ähnlich erkennen, weil sie auch Menschen sind, aber gleichzeitig als mir unähnlich, weil ich die traumatischen und gewalttätigen Erfahrungen, die sie erlitten haben, niemals nachvollziehen kann. Das ist meiner Meinung nach ein sehr kraftvoller Gedanke, der eine kritische Haltung und die ständige Verhandlung zwischen verschiedenen Positionen und Zeitlichkeiten hervorbringt. Dies kennzeichnet, was ich unter ‹ inbetweenness › verstehe. Wenn wir bei der Erinnerung an den Holocaust ‹ inbetween › Vergangenheit und Gegenwart verbleiben können, kann dies in einer Weise zum Nachdenken anregen, wie es der Versuch ‹ to be in someone else’s shoes › nicht vermag.
Ein noch grösseres Problem bei der Konzentration auf Empathie besteht jedoch darin, dass wir die Menschen dazu ermutigen, sich als ‹Opfer› zu positionieren. Ernst Van Alphen hat argumentiert, dass dies für Holocaust-Erinnerung völlig unproduktiv ist.26 Denn die Lektion, die wir dann lernen, lautet: « Das könnte mir auch passieren ». Eine viel wertvollere Lektion wäre es jedoch, Fragen zu stellen wie: «Wie kann ich verhindern, zum Zuschauer zu werden?» oder etwas provokanter: «Könnte ich selbst eine Täter*in sein?» oder «Wie könnte ich verhindern, selbst zur Täter*in zu werden?»
[ Christian ] Silke Arnold-de Simine hat diese empathiezentrierte Form von Erinnerung als ‹ dunkle Nostalgie › beschrieben,27 als Bedürfnis von Besucher*innen, eine extreme Erfahrung ausserhalb des eigenen Erfahrungshorizontes machen zu wollen. Die Diskussionen um Angebote, die dieses Bedürfnis befriedigen, sind allerdings nicht neu. In der Gedenkstätte Hohenschönhausen werden beispielsweise Verhöre nachgestellt und man wird während des Rundgangs in eine Zelle eingeschlossen. Solche Angebote entmündigen und überfordern.
Ergänzend zu dieser Problematik liesse sich auch eine VR-Anwendung nennen, in der man in die Rolle eines Täters schlüpft. Dabei handelt es sich um das Spiel Überläufer. Man ist Mitglied der SS, entscheidet sich dann – wie der Titel schon impliziert – die Seiten zu wechseln, muss dabei aus einem weitläufigen Komplex flüchten und kann nebenbei mit Mitgliedern des Widerstands Kontakt aufnehmen. Eigentlich wird dieses Setting nur als Kulisse genutzt, bedient aber den Topos des ‹guten deutschen Soldaten›, verschleiert zudem die Verbrechen der Wehrmacht und erweckt ausserdem auch noch den Anschein, dass so ein Szenario auch nur Ansatzweise wahrscheinlich ist. Dadurch findet eine Entpolitisierung statt, bei der sich die Spielenden nicht mehr mit der eigenen Rolle und den eigenen Taten auseinandersetzen müssen.
1 | Das Gespräch fand schriftlich statt. Die Teilnehmer*innen antworteten in der abgebildeten Reihenfolge und hatten die Antworten ihrer Vorredner*innen zu Verfügung. |
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2 | USC Shoah Foundation, The Institute for Visual History and Education: Dimensions in Testimony, ‹ https://sfi.usc.edu/dit ›, Stand: 18.02.2022. Das erst virtuelle Zeugnis wurde mit dem Überlebenden Pinchas Gutter aufgenommen: ‹ https://www.youtube.com/watch?v= AnF630tCiEk ›. |
3 | Hartman, Geoffrey H.: The Longest Shadow: In the Aftermath of the Holocaust, 1996. |
4 | Die Antworten von Victoria Grace Walden wurden von Jonas Wenger aus dem Englischen übersetzt. |
5 | Schöne, Benjamin; Wessels, Marlene; Gruber, Thomas: Experiences in Virtual Reality: a Window to Autobiographical Memory, in: Current Psychology 38 (3), 01.06.2019, S. 716. |
6 | Madary, Michael; Metzinger, Thomas K.: Real Virtuality: A Code of Ethical Conduct. Recommendations for Good Scientific Practice and the Consumers of VR-Technology, in: Frontiers in Robotics and AI 3, 2016. Online: ‹https://www.frontiersin.org/article/10.3389/frobt.2016.00003›, Stand: 26.02.2022. |
7 | Griffiths, Alison: Shivers Down Your Spine: Cinema, Museums, and the Immersive View, 2008. |
8 | Henderson, Amy; Korner-Bitensky, Nicol; Levin, Mindy: Virtual Reality in Stroke Reha- bilitation: A Systematic Review of its Effective- ness for Upper Limb Motor Recovery, in: Topics in Stroke Rehabilitation 14 (2), März 2007, S. 52 – 61. |
9 | Buder, Emily: « Nazi VR »: Virtual Reality Helps Prosecute Nazi War Criminals in Ger- many – The Atlantic, ‹ https://www.theatlantic.com/video/index/586567/nazi-vr/›, Stand: 26.02.2022. |
10 | Levy, Steven: ‹ AR Is Where the Real Metaverse Is Going to Happen ›, in: Wired, Online: ‹ https://www.wired.com/story/john-hanke-nian tic-augmented-reality-real-metaverse/›, Stand: 26.02.2022. |
11 | Virtual Tour – Auschwitz I, ‹http://panora ma.auschwitz.org/tour1,en.html›, Stand: 26.02.2022. |
12 | Anne Frank House VR on Oculus Go, Oculus, ‹https://www.oculus.com/experiences/go/1596151970428159/›, Stand: 26.02.2022. Und: The Last Goodbye für Oculus Rift, Oculus, ‹https://www.oculus.com/experiences/rift/1973 329179388804/›, Stand: 26.02.2022. |
13 | So zum Beispiel das die Franchise TimeRide, die Reise in die Vergangenheit ver- schiendener deutscher Städte anbietet: ‹ https://timeride.de/›, Stand: 18.02.2022. |
14 | USC Shoah Foundation: Lala (360), 6:00, 18.08.2017. Online: ‹ https://www.youtube. com/watch?v=7AgA68qG5C8 ›, Stand: 26.02.2022. |
15 | Die Londoner Charta für die computergestützte Visualisierung von kulturellem Erbe, ‹http://www.londoncharter.org/fileadmin/tem plates/main/docs/london_charter_2_1_de.pdf›, Stand: 18.02.2022. |
16 | Pacheco Estefan, Daniel; Wierenga, Sytse; Omedas, Pedro u. a.: Spatializing experience: a framework for the geolocalization, visualization and exploration of historical data using VR / AR technologies, 2014. |
17 | Gardner, Eliot: Does a VR Auschwitz simulation cross an ethical line?, Alphr, ‹https://www.alphr.com/life-culture/1007241/does-a-vr-auschwitz-simulation-cross-an-ethical-line/›, Stand: 27.02.2022. |
18 | Assmann, Aleida: Die Last der Vergangenheit, in, 2008. Online: ‹ https://doi.org/10. 14765/ZZF.DOK-1894 ›. |
19 | Walden, Victoria Grace: Cinematic Inter- medialities and Contemporary Holocaust Memory, New York, NY 2019. |
20 | Slater, Mel: Immersion and the illusion of presence in virtual reality, in: British Journal of Psychology 109 (3), 2018, S. 231 – 233. Online: ‹ https://doi.org/10.1111/bjop.12305 ›. |
21 | EkosVR: Henry a VR Experience – Oculus Story Studio – Oculus Rift, 8:47, 02.04.2016. Online: ‹https://www.youtube.com/watch?v=IUY 2yI5F16U›, Stand: 27.02.2022. |
22 | Ahmed, Sara: The Cultural Politics of Emotion, New York 2014, S. 30. |
23 | Baer, Ulrich: « Niemand zeugt für den Zeugen»: Erinnerungskultur und historische Verantwortung nach der Shoah, Frankfurt am Main 2000. |
24 | LaCapra, Dominick: Writing History, Writing Trauma, 2001, S. 40. |
25 | Didi-Huberman, Georges: Images in Spite of All: Four Photographs from Auschwitz, Chicago, IL 2012. Online: ‹ https://press.uchicago. edu/ucp/books/book/chicago/I/bo5907594.html ›, Stand: 27.02.2022. |
26 | Van Alphen, Ernst: Playing the Holocaust, in: Kleeblatt, Norman L. (Hg.): Mirroring Evil: Nazi Imagery / Recent Art, New York: New Bruns- wick, 2002, S. 65 – 79. |
27 | Simine, Silke Arnold-de: Mediating Memory in the Museum: Trauma, Empathy, Nostalgia, 2013; Sharpley, Richard; Stone, Philip R.: The Darker Side of Travel, 2009. |