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Jenseits von (Un-)Virtuous Virtual Reality ?

Die radikalen Ambivalenzen einer 360° Video-Koproduktion

[Abstract] 360°-Videos und Kameras bilden die Zukunft von VR. Sie erlauben die günstige und einfache Produktion von Inhalten. Wie Erfahrungen aus Cotonou, Dakar und Lagos zeigen, führt die ausgeweitete Verfügbarkeit allerdings ebenso in neue Abhängigkeiten.

360°-Videos und Kameras sind ein wesentlicher Bestandteil der Zukunft von VR. Sie sind günstig und ermöglichen eine leicht zugängliche Produktion von Inhalten für VR-Plattformen. Doch nicht nur grosse Unternehmen sind daran interessiert, auch Journalist*innen und NGOs arbeiten mit 360°-Kameras. Im folgenden Text präsentiere ich einen Erfahrungsbericht, der auf meiner eigenen Doktorarbeit über die emanzipatorischen, aber auch negativen Eigenschaften dieser neuen Technologie basiert.

Im Sommer 2021 führte ich im Rahmen meiner Doktorarbeit eine zweimonatige Feldforschung in Zusammenarbeit mit mehreren ‹community based NGOs›, die dem Verband Slum Dweller International (SDI) angehören, eine zweimonatige Feldforschung in den drei westafrikanischen Städten Cotonou, Dakar und Lagos durch. Dort experimentierten wir gemeinsam mit Bewohnern*innen aus ‹informellen Siedlungen› mit der Nutzung von 360°-Kameras.1 Meine Rolle war hauptsächlich die eines teilnehmenden, akademischen Beobachters, der die Aneignung der 360°-Technologie durch die Bewohner*innen verfolgte, studierte und unterstütze. Aufgrund des explorativen und experimentellen Charakters der Kooperationen waren Umfang und Finanzierung gering. Die NGOs finanzierten hauptsächlich die Kosten für die Anschaffung der Kameras und die Tagegelder für die an den 360°-Workshops teilnehmenden Gemeindemitglieder.

Mein Ziel war es, die Möglichkeiten und Probleme dieser relativ neuen Technologie in den städtischen Zentren Westafrikas zu erforschen und durch kollektive Prozesse auch mitzugestalten. Die Beschäftigung mit den Anwendungen in den drei Städten könnten neue Erkenntnisse über die rasante ‹technologisation de l’existence › 2 in südlichen Metropolen liefern, die selten mit High-Tech-Geräten wie 360°-Kameras oder VR-Headsets in Verbindung gebracht werden. Mit Blick auf die Erkenntnisse des wachsenden Forschungsinteresses zum Thema und meiner eigenen Erfahrungen kam ich zu dem Schluss, dass die 360°-Technologien mehrere Schlüsseleigenschaften aufweist, die sich tatsächlich als ‹ Empowerment › für die Bewohner*innen informeller Siedlungen herausstellen könnten. Beispielsweise birgt die Technologie ein Potential für das mit der lokalen Bevölkerung zusammenarbeitende Mediateam der lokalen NGO, indem sie die Macht über die Bilder zumindest teilweise in die Hände der Filmer*innen legt. Zugleich allerdings (re-)produzieren 360°-Technologie aber auch einige kontrollierende und kolonisierende Merkmale, die dringend empirisch untersucht werden müssen.

Da die Verwendung von 360°-Kameras entgegen den Vorhersagen von Google oder Meta noch nicht überall verbreitet ist, bietet sich eine kurze Erläuterung ihrer Funktionsweise an. 360°-Kameras sind Geräte, die kugelförmige (= sphärische) Videos oder Bilder aufnehmen. Wie bei jeder Projektion des Planeten auf eine flache 2D-Karte werden bei der Projektion eines kompletten 360°-Bildes auf eine 2D Fläche vor allem der obere und der untere Teil des Bildes verzerrt (ähnlich zu was mit dem Süd- und Nordpol auf Karten passiert). Das folgende Bild, das in Dakar von einem Mitglied des Medienteams aufgenommen wurde, das den «Chef de Quartier» interviewte, macht dies deutlich. Die Strasse, die auf dem Bild gekrümmt erscheint, ist in Wirklichkeit gerade.

360° Medien ermöglichen es, dass sich die Betrachter*innen – von der Position aus, in der sich die Kamera zum Zeitpunkt der Aufnahme befand – selbst entscheiden können, wohin sie schauen. Die Verwendung dieser Geräte wirft damit neue Fragen in Bezug auf Produktion und Seherlebnis auf. Beispielsweise welche Konsequenz dies für die Wahl des Ausschnittes der Bilder hat, wenn es keinen abgegrenzten rechteckigen Rahmen mehr gibt, sondern die Betrachter*in frei entscheiden kann, wohin sie schaut, indem sie ihren Kopf (mit einem Headset) oder – weniger immersiv – ihre Hände mit einem Smartphone oder einer Maus bewegt.

Das bekannteste Beispiel für solch sphärischen Fotodateien ist wohl Google Street View. Obwohl es sich dabei nicht um 360°-Videos, sondern um Fotos handelt, ermöglicht Street View seinen Nutzer*innen, sich mit der Maus ihres Computers umzusehen. Ein 360°-Video funktioniert ähnlich, nur dass die Bilder keine Standbilder sind. Ob 360°-Videos eine ‹virtuelle Realität› darstellen, ist umstritten. Einige argumentieren, dass die ‹Realität›, die sie einfangen, nicht ‹ virtuell › ist, da sie aus Aufnahmen der ‹realen Welt› besteht, die in Zeit und Raum lokalisierbar sind. Andere wiederum denken, dass Technologien für den Betrachter eine ‹virtuelle Realität› darstellen, sobald sie in einem Simulationsdispositiv verwendet werden. Es wird jedoch im Allgemeinen anerkannt, dass 360°-Videos eine niedrige Interaktionsebene bieten, welche auf die Drehbewegung um die x-, y- und z-Raumdimension beschränkt bleibt.3 Zudem gibt es weiterhin Unterschiede in der Nutzung. Einige verwenden für die Betrachtung von 360°-Videos ein Head-Mounted-Display (HDM). Weil diese die periphere Sicht ausblenden, bieten die VR-Brillen besondere Möglichkeiten für immersive Erfahrungen. Nichtsdestotrotz sind Smartphones und Computer nach wie vor die gängigste Art 360°-Videos anzuschauen.

Projekt Set-Up

Der Hype, die Ängste und die Begeisterung um diese Geräte und die Entwicklung von VR haben eine reichhaltige akademische Literatur hervorgebracht. Innerhalb dieses Feldes, das sich weitgehend auf die Rezeption von 360°-Videos (oder VR-Spielen) und ihre Auswirkungen auf die Anwender*innen konzentriert, erforsche ich mit der (Ko-)Produktion von 360°-Videos und -Fotos ein eher selten beachtetes Thema; insbesondere die er- oder entmächtigenden Potenziale der 360°-Videoproduktion von ‹Grassroots›-Bewegungen und Anwendungen.


Marie-Odile Diouf, interviewing a «Chef de quartier». Credits: Équipe Media FSH, Marie-Odile Diouf

In Anbetracht dieses Schwerpunkts habe ich einen beträchtlichen Teil meiner Feldforschung damit verbracht, mit verschiedenen Arbeitsabläufen und der Verwendung von 360°-Kameras zu experimentieren, hauptsächlich mit Bewohner*innen informeller Siedlungen, die zugleich Mitglieder des lokalen NGO-Mediateams waren, mit dem ich zusammenarbeitete. Der Anfang war unkompliziert: Nach einem eintägigen praktischen Einführungsworkshop zur Verwendung der von der NGO erworbenen 360°-Kameras, wurden die Workshop-Teilnehmer*innen gebeten, in kleinen Gruppen (3 – 4 Personen) Aufnahmen zu planen. Diese sollten sie nach ihren eigenen Vorstellungen selbst durchführen, wobei manchmal auch die Leitung des Mediateams Einfluss nahm. Von da an beschränkte sich meine Rolle auf die eines technischen Assistenten und teilnehmenden Beobachters und ich hielt mich mit Vorschlägen für Aufnahmen und deren Planung zurück.

Der aktivistische Charakter der NGO und ihre bereits bestehende Medienarbeit war von Anfang an eine Ausrichtung, die ich als Stärke des Projekts betrachtete. Hier, in der Aneignung von 360° Technologien durch rassifizierte Personen,4 liegt meiner Meinung nach das Potential der Technologie für Empowerment. Schliesslich sind es ‹ toxische Verkörperungen › (‹toxic embodiments›) von rassifizierten Personen und das damit verbundene Othering, die in VR-Anwendungen, oftmals mit einem mehrheitlich männlichen und weissen Publikum als Zielgruppe, präsentiert werden, was Lisa Nakamura bereits pointiert kritisierte.5 Diesem Problem soll dadurch entgegengewirkt werden.

Anfänglicher Enthusiasmus

Zu Beginn war ich positiv überrascht. In den drei Städten, in denen ich die Feldforschung durchführte, waren die Rückmeldungen und Kommentare, die ich während der Einführungsworkshops und der ersten Probeaufnahmen hörte, überaus positiv. Die unkomplizierte und dadurch niederschwellige Handhabung schien die Hauptquelle der Begeisterung zu sein. Die Kameras wurden von Mitgliedern des Medienteams mit sich herumgetragen, wobei sie das Gerät am Ende eines Selfie-Sticks in Gesichtshöhe hielten. Dieses Setup macht die Kamera einfach transportierbar, da der Aufnahmevorgang der Handhabung eines (selbstfilmenden) Sticks ähnelt.


Mustapha Emmanuel presenting the rubble of Diobou Waterfront community after forced eviction. Credits: Nigeria media4change, Mustapha Emmanuel

Dies ermöglichte den Anwender*innen das Filmen unterschiedlichster Orte und Situationen. Sie drehten zum Beispiel mehrere 360°-Rundgänge, welche die Renovierungsprojekte der NGO in Dakar zeigten. Es entstanden jedoch auch intimere Berichte über das Alltagslebens in verschiedenen Vierteln mit einkommensschwacher Bevölkerung an der ‹Waterfront› (Lagos) oder existenzsichernde Arbeitstätigkeiten, beispielsweise in der Fisch- oder Landwirtschaft, in einem auf Pfählen gebauten Viertel in der Lagune von Cotonou. Die Vielfalt der aufgenommenen Themen war teilweise auf den offenen, experimentellen Charakter des Workshops und die zurückhaltende Beteiligung der NGO-Leitung am Inhalt der Aufnahmen zurückzuführen. Die Mediateams wurden nicht dazu gedrängt, veröffentlichungsfähige 360°-Videos zu produzieren, die mit den Zielen der NGO übereinstimmten und waren daher sehr frei in der Wahl der Themen und Videos.

Die Mitglieder des lokalen Medienteams sahen in der 360°-Kamera eine Möglichkeit, ihre Arbeit zu vereinfachen, indem sie freier filmen konnten, ohne die Schlüsselelemente der normalen ‹ flachen › Videoarbeit berücksichtigen zu müssen. Insbesondere Bildausschnitt, Beleuchtung, Tiefenschärfe und Bildstabilisierung mussten mit dieser technologischen Lösung nicht mehr beachtet werden, da die Kamera-Software dies automatisch anpasste. Der Enthusiasmus war oft spürbar und es hätte die Filmteams viel mehr Zeit gekostet, eine ähnliche Szene mit einem Stativ, verschiedenen Winkeln, Kadrierungen, also mit dem üblichen Setup einer kurzen Videoproduktion, zu drehen. Mit anderen Worten, die neue Kamera wurde als Steigerung dessen wahrgenommen, was Jacques Ellul als das bestimmende Element der Technologie bezeichnete: Effizienz.6

Die Ambivalenz der Automatisierung von Empowerment

Was als Effizienzgewinn durch technologische Innovation erscheinen mag, die den Prozess des Filmens einfacher, zugänglicher und effizienter macht, birgt jedoch auch Widersprüche und Paradoxien. Ein Paradox besteht zum Beispiel darin, dass die von den Mitgliedern des Mediateams bei der Verwendung der Kamera empfundene Selbstständigkeit vor allem auf technologische Funktionen zurückzuführen ist, die die Benutzer*innen mittels verschiedener automatischer Einstellungen gleichzeitig entmachten, da sie in der Kamera voreingestellt sind und von den Benutzer*innen nicht geändert werden können.

Zu den wichtigsten dieser meist unveränderlichen Kameraeinstellungen gehören die automatische Iso-Anpassung (die Lichtempfindlichkeit der Kameras), die automatische 6-Achsen-Gyroskop-Stabilisierung und die automatische Entfernung des Selfie-Sticks aus dem Bildmaterial der Videodateien. Diese Schlüsselfunktionen waren insofern förderlich, als dass sie die Filmteams von der Notwendigkeit befreiten, die Kamera und ihre Parameter während der Aufnahmen aktiv zu steuern. Dies ermöglichte es ihnen, spontaner und mit weniger Training oder technischem Fachwissen zu filmen. Aber diese Voreinstellungen schränkten auch die Kontrolle über die von ihnen verwendeten technischen Geräte ein. Die neue Handlungsfähigkeit, die durch die tragbare und einfach zu bedienende Kamera gewonnen wurde, ging zugleich auf Kosten der Handlungsfähigkeit der Nutzer*innen, diese voreingestellten Kameraparameter zu verändern und zu kontrollieren.

Entgegen Jean Baudrillards Aussage, dass der Automatismus den Menschen in die Verantwortungslosigkeit eines blossen Zuschauers verbannt,7 hatten die Automatismen der 360°-Kamera den ambivalenten Effekt, dass sie die Schaffung eines Spektakels – in Form von 360°-Videos – erleichterten, während sie die Anwender*innen gleichzeitig zu Zuschauer*innen des fast automatischen Mechanismus der 360°-Kamera machten, die sie in ihren Händen halten.

Diese bedeutende Ambivalenz der 360°-Kamera, die gleichzeitig ermächtigend und entmündigend wirkt, ist ein treffendes Beispiel für das, was Jacob Geuder als ‹digitale Ambivalenzen› bezeichnet hat. Geuder beschreibt damit die schwierige Wahl, vor der progressive Aktivist*innen stehen, wenn sie soziale Medien und Plattformen nutzen, die von einigen der grössten Unternehmen der Welt kontrolliert werden. Für ihn bezeichnet

Digitale Ambivalenz […] die Spannung, die in konkreten Praktiken entsteht, wenn kapitalistische ‹soziale› Medien für politischen Widerstand genutzt werden. Dabei wird das digitale Netz für politische Proteste und Kampagnen um umkämpfte städtische Räume zusehends wichtiger.8

Geuder argumentiert weiter, dass diese Ambivalenzen nicht den Verzicht auf die Nutzung sozialer Medien rechtfertigen sollten, sondern vielmehr die Notwendigkeit einer kritischen und strategischen Auseinandersetzung mit diesen Werkzeugen schaffen, welche keine ‹ sicheren Territorien › für Aktivist*innen sind. Diese Ambivalenzen treten auch rund um die aktivistische Nutzung von 360°-Kameratechnologien auf.

Neue Abhängigkeiten

Weitere digitale Ambivalenzen, die sich aus den automatischen Mechanismen der 360°-Kamera selbst ergaben, traten zutage, als die Mitglieder des Mediateams der NGO und ich mit den Videodateien zu arbeiten begannen. In Anbetracht der Tatsache, dass die Kameras mit einer Auflösung von 5k bis 6k Pixeln aufnahmen, stellte die Grösse der Dateien (ca. 1 GB pro zwei Minuten Aufnahme) eine grosse Herausforderung dar, die es zu bewältigen galt, bevor mit der Nachbearbeitung auf einem Computer oder einem Smartphone begonnen werden konnte. Tatsächlich waren die Dateien so gross, dass sie meist nicht auf Smartphones übertragen werden konnten. Dieses Problem konnte nur teilweise durch die Verwendung von Laptops gelöst werden, da diese oft ebenfalls Schwierigkeiten hatten, die Dateien zu öffnen, ohne dass Bilder oder Sound verloren gingen. Dies gestaltete die Arbeit mit den Dateien und die Durchführung grundlegender Bearbeitungsaufgaben sehr zeitaufwändig und frustrierend. Bessere Laptops und Smartphones waren deshalb notwendig.

Diese praktischen Einschränkungen offenbaren eine weitere entmündigende Eigenschaft der 360°-Kameras: Sie erhöhen die technologische Abhängigkeit von weiteren Geräten und damit die Notwendigkeit, knappe Ressourcen in das digitale Ökosystem zu investieren. Auch wenn die Preise für 360°-Kameras recht niedrig erscheinen (circa 500.— CHF), sollten die verdeckten Kosten der Geräte, die für die Arbeit mit 360°-Kameras benötigt werden, nicht unterschätzt werden. In Gegenden mit einkommensschwachen Bewohner*innen bildet die notwendige Erfordernis von High-End-Computern oder Smartphones, um überhaupt erst mit 360°-Kameras arbeiten zu können, eine besonders hohe Eintrittsbarriere.

Aneignung und Anpassung eines neuen Formats

Die 360°-Videos, die wir machen konnten, mussten in Inhalt und Struktur sehr einfach sein. Die technischen Einschränkungen der Kamera zwangen uns dazu, relativ kurze One-Shot-Sequenzen zu entwickeln, die nur wenig Bearbeitung und wenig bis gar keine Montage erforderten. Inhaltlich zwang uns das, Videos zu produzieren, die sich auf eine einzelne Person an einem gleichbleibenden Ort und für einen zusammenhängenden zeitlichen Abschnitt konzentrierten. Dieses einfache Format ist sehr effektiv, um Betrachtende in einen bestimmten Moment und Ort eintauchen zu lassen, und hat einen starken ‹reality effect›. Der Effekt wird dadurch weiter verstärkt, dass Anwender*innen frei wählen können, wohin sie schauen und das Gefühl von ‹Präsenz› vermittelt bekommen. Die automatisierte Technologie stellt ausserdem eine starke Einschränkung der narrativen Möglichkeiten dar.

Trotz dieser Einschränkungen wurden diese Medien auf verschiedene Weisen genutzt, die als emanzipatorisch angesehen werden könnten. Durch den vereinfachten Zugang zur Filmproduktion bot die 360°-Kamera der marginalisierten Bevölkerung von informellen Siedlungen eine einfache Möglichkeit, sich selbst zu filmen, anstatt von anderen gefilmt zu werden. Die Kamera muss von den Anwender*innen nur eingeschaltet und am Ende des Selfiesticks gehalten werden, während sie herumlaufen und sich mit anderen unterhalten. Dies wurde als sehr einfach erlebt und bot viele potenzielle Einsatzmöglichkeiten. Eine normale Kamera oder sogar eine Smartphone-Kamera ist vergleichsweise komplizierter zu bedienen, vor allem, weil das Motiv geframet und die Kamera relativ stabil gehalten werden muss. Die einfache Handhabung könnte ein ermächtigendes Merkmal von 360°-Filmen sein. Andererseits besteht aber auch die Gefahr, dass die Technologie für eine neue Form des ‹Slumtourismus› ausgenutzt werden könnte, bei dem die Slumbewohner*innen das internationale Publikum durch ihre alltägliche Umgebung führen. Diese Filme könnten dann potentiellen Spender*innen zu einer einfach zugänglichen und sicheren, ‹ authentischen › Erfahrung verhelfen; «to feel good about feeling bad», wie Nakamura dies ausdrückt.9 Das Kernproblem der Automatisierung von Empathie und der Aneignung privater Räume von Subalternen verschwindet nicht, wenn die Slumbewohner*innen die Inhalte selbst produzieren. Die Frage der Rezeption und des Publikums bleibt bestehen, aber zumindest werden diese Videos zu den Bedingungen und mit den Zielen der Bewohner*innen produziert.


Marie-Odile Diouf, holding the 360° camera while interviewing a «Chef de quartier» Credits: Équipe Media FSH, Thomas Gana Mbengue

Eine weitere Möglichkeit, die von einer der NGO’s (JEI Nigeria) aktiv in Erwägung gezogen wird, ist der Einsatz der 360°-Kamera in informellen Siedlungen, die von Räumung und Abriss bedroht sind. Dadurch könnten die gefährdeten Orte sichtbar und greifbar gemacht werden. Während ich diese Zeilen schreibe, werden solche Kameras benutzt, um die Zerstörung der Lebensgrundlagen, von Häusern und Räumen zu dokumentieren, die zwischen dem 29. Januar und dem 2. Februar 2022 in der informellen Siedlung Diobou Waterfront in Port Harcourt stattgefunden hat. Diese Community wurde gewaltsam geräumt, und jedes einzelne Gebäude wurde von Bulldozern und der Polizei vollständig dem Erdboden gleichgemacht. In diesem Fall setzt JEI die 360°-Kamera in der Hoffnung ein, dass die Dokumentation ein Bewusstsein für die Zerstörung schafft, die eine solche Räumung mit sich bringt, und als Abschreckung für künftige Zwangsräumungen von armutsbetroffenen Stadtbewohner*innen dient. Mustapha, ein Mitglied des Medienteams, mit dem ich in Lagos zusammengearbeitet habe, hat sich bereit erklärt, uns einige der ersten 360°-Videos zur Verfügung zu stellen, die er in der Diobou Waterfront nach der Räumung aufgenommen hat. Das folgende Bild wurde mit Mustaphas Einverständnis direkt aus seinem Video erstellt.

Dieser instrumentelle Einsatz der 360°-Kamera, um rasch Berichte zu erstellen und bedrohte Orte und Gemeinschaften zu dokumentieren, bietet vielversprechende Möglichkeiten für Videoaktivist*innen, die in kurzer Zeit Videomaterial aufnehmen wollen. Für diesen Anwendungsbereich und die Fälle jedoch, in denen eine grosse Verbreitung der Videos angestrebt wird, sollte das 360°-Video vielleicht in ein konventionelles, einfacher teilbares, flaches 2D-Video umgewandelt werden.

Die Enteignenden enteignen

Im krassen Gegensatz zu der Arbeit und dem Zeitaufwand, die für die Aneignung der 360°-Technologie durch die Bewohner*innnen informeller Siedlungen erforderlich sind, erscheint die sofortige Aneignung ihrer Arbeiten durch VR-Plattformen (z. B. Google oder Meta), sobald sie online hochgeladen sind, unverhältnismässig, unfair und vielleicht auch zu einfach für die Plattformen. Im Jahr 2017 kritisierte der Spieleentwickler und Kunstkritiker Robert Yang 360°-Videos scharf als ‹ appropriation machines ›. Diese seien:

fundamentally about mining the experiences of suffering people to enrich the self-image of VR users … or, even worse, they’re about mining the experiences of suffering people to enrich the cultural appeal of VR brands […] 10

Sein Blogbeitrag war ein Frontalangriff auf den vorherrschenden VR-Marketing-Diskurs, wie er z. B. 2015 in einem TED-Vortrag vorgestellt wurde, in dem Chris Milk – einer der wichtigsten Pioniere des 360°-Doku-Genres – 360°-Videos als ‹ultimate empathy machines› präsentierte. Diese Darstellung der VR-Technologie, die fast mechanisch Empathie erzeugen soll, wird in der kritischen Literatur als gefährlich positive Darstellung einer Technologie beschrieben, wobei die zahlreichen Gefahren und Probleme verharmlost werden: Unter dem Deckmantel, Empathie für die Entrechteten und Ausgegrenzten erzeugen zu wollen, stellen VR-Macher*innen die Technologie, die sie anwenden, als moralisch wertvoll ‹virtuous› dar und rücken ihre Tätigkeit in ein selbstgerechtes Licht. Paul Roquet geht sogar so weit zu behaupten, dass VR-Videos eher Empathie für die meist weissen, männlichen VR-Entwickler schaffen, als für die Menschen, die durch diese Technologie repräsentiert werden.11

Um diese Aneignungsmechanismen besser zu verstehen, müssen auch die Unternehmensinteressen der VR-Marken berücksichtigt werden. Allein im Jahr 2021, sechs Jahre nach dem Kauf von Oculus – dem damals erfolgreichsten HMD-Hersteller –, änderte Facebook seinen Namen in Meta und investierte 10 Milliarden Dollar in die Entwicklung von VR- und AR-Technologien. Meta ist damit nicht allein. Auch Google, Apple, Microsoft und andere grosse Digitalunternehmen investieren massiv in VR-Technologien. Mehrere grosse Unternehmen des digitalen Kapitalismus setzen demonstrativ auf die Entwicklung von VR. In diesem Umfeld und wirtschaftlichen Kontext schafft die (Co-)Produktion von 360°-Videos im Endeffekt Inhalte, die nur darauf zu warten scheinen, von diesen Plattformen und Unternehmen angeeignet und kommerzialisiert werden zu können. In gewisser Weise stärkt die Erstellung von 360°-Videos die unternehmerischen Projekte zur Schaffung von virtuellen Paralleluniversen, ob diese nun von Aktivist*innen gemacht wurden oder nicht. Diese Aneignung zweiter Ordnung, das heisst nicht direkt durch die Entwickler*innen, sondern durch diejenigen Unternehmen, die diese Technologie vertreten, ist nicht zu ignorieren.

Doch trotz der vielen Arten der ausbeuterischen Aneignung wirft die aktivistische Nutzung der Technologie die Frage auf, ob darin vielleicht nicht doch emanzipatorische Potentiale enthalten sind. Wenn die 360°-Macher*innen selbst in sozial schwachen Positionen sind, stellt sich die Frage der Aneignung neu, da die Technologie auch von marginalisierten Menschen oder ausgegrenzten Gruppen in sozialen Kämpfen angeeignet wird. Die Technologie wird dadurch radikal ambivalent, da ihre Beherrschung es dem exotisierten Subjekt der ‹virtuous› VR auch ermöglichen könnte, sich selbst auf eine andere Weise darzustellen; das heisst, für sich selbst zu sprechen und die mächtigen, mit dieser Technologie verbundenen Effekte und Vorstellungen zu ihrem Vorteil zu instrumentalisieren. Visuelle Werkzeuge, die eine kollektive Selbstdarstellung ermöglichen, müssen deswegen nicht nur als ausbeuterisch betrachtet werden, sondern können auch für emanzipatorische Ziele eingespannt werden. Diese Gleichzeitigkeit von ermächtigenden und ausbeuterischen Eigenschaften machen die radikale Ambivalenz aus.

Für eine Pharmakologie der digitalen Werkzeuge des Kapitalismus

Diese radikale Ambivalenz von VR-Technologien und 360°-Videos sticht deutlich heraus, ist aber nicht besonders überraschend. In der Tat haben viele Technikphilosophen, beginnend mit Platons Diskussion über die ambivalente Wirkung der Schrift auf das menschliche Gedächtnis, die Ambivalenz als Hauptmerkmal von Technologie angesehen.12 Entgegen der naiven Auffassung, dass Technik neutral sein könne und dass nur ihr Gebrauch ethisch oder moralisch beurteilt werden kann, argumentieren diese Philosophen, dass alle Werkzeuge, Techniken und Technologien auf radikale Weise ambivalent sind.

Dieser Gedanke wird von Bernard Stiegler am deutlichsten unter dem griechischen Begriff Pharmakon gefasst. Dieser beschreibt eine Substanz, die gleichzeitig ‹heilend› (‹curative›) und ‹giftig› (‹poisonous›) ist. Ausgehend von diesem Verständnis der Technologie als Pharmakon fordert Stiegler eine Pharmakologie der Technologie, das heisst die Untersuchung ihrer potenziell ‹ toxischen › und ‹ therapeutischen › Eigenschaften und Wirkungen.

Ich behaupte, dass 360°-Aufnahme- und Wiedergabetechnologien eine äusserst relevante Fallstudie für solche pharmakologischen Bemühungen um die digitalen Werkzeuge des Kapitalismus darstellen. Da sich der Kapitalismus rasch auf die Ausweitung digitaler Umgebungen zubewegt, ist eine solche kritische Bewertung der neuen, in der Entwicklung befindlichen Werkzeuge dringend erforderlich, da diese Werkzeuge das tägliche Leben von Milliarden von Menschen beeinflussen könnten. Innerhalb unseres grossen digitalen Ökosystems, das sich rasant entwickelt, sind 360°-Videos ein besonders relevanter Untersuchungsgegenstand, auch wenn sich ihre Nutzung immer noch grösstenteils auf das Genre der Vlogger und Action-Cams beschränkt. Diese Relevanz ergibt sich zum Teil aus den folgenden Schlüsselaspekten von 360°-Videos, die mehrere bestimmende Elemente dessen verkörpern, was Shoshanna Zuboff Das Zeitalter des Überwachungskapitalismus genannt hat.13

Erstens sind 360°-Videos riesige Datenmengen, die in der Datenökonomie ausgebeutet werden. Daten werden dabei zum neuen Rohstoff, der extrahiert werden muss. Zweitens erfordert die Produktion von Daten in diesem Wirtschaftsmodell häufig eine aktive Auseinandersetzung der Nutzer*in mit dem Medium. Sie erfordert demnach ihre ständige Aufmerksamkeit. Die inzwischen weithin anerkannten süchtig machenden Eigenschaften von Smartphones und sozialen Netzwerken ergeben sich aus der Notwendigkeit, das ‹ Engagement › und damit die Produktion von Daten ständig zu erhöhen. Diese Daten können später an Werbetreibende weiterverkauft werden können, sei es in Form einer ‹ targeted audience exposure› oder in Form von ‹users’ behaviour nudging›. Im Kontext des Wettbewerbs um die Aufmerksamkeit der Nutzer*innen stellen 360°-Videos, wenn sie mit einem HMD betrachtet werden, einen Extremfall eines aufmerksamkeitsstarken Geräts dar. Denn durch das ‹Eintauchen› in das Video werden die beiden wichtigsten Sinne – Sehen und Hören – voll und ganz ‹immersed›. Drittens stellt die geringe Grösse der 360°-Kameras, ihre einfache Handhabung und das aufgenommene 360°-Feld ein enormes Potenzial dar, um als Überwachungsinstrument eingesetzt zu werden. Ob am Ende die Aneignung der 360°-Technologien durch subalterne Kollektive, die für sich selbst sprechen, indem sie sich selbst filmen, den Gefahren eben dieser Technologie entgegenwirken kann, wird sich zeigen. Es lässt sich allerdings bereits heute sagen, dass wie bei jeder Technologie auch in 360°-Anwendungen emanzipatorische und ausbeuterische Eigenschaften koexistieren und entwickelt werden. Dabei wird die Kritik an der Aneignung durch Konzerne und das Lernen, wie man dies unterlaufen kann, zugleich zu einem wichtigen Bestandteil sozialer Kämpfe, gerade angesichts dessen, dass das Metaversum durch die zunehmende Digitalisierung des menschlichen Lebens und der menschlichen Interaktionen immer näher rückt.

Hervé Roquet ist Doktorand in Geographie an der Universität Genf, wo er an der Koproduktion von 360°-Videos als visuelle Aktionsforschungsmethode arbeitet.

References
1 Der Begriff ‹informal settlement› wird als Bezeichnung für einkommensschwache Viertel oder ‹Slum› im globalen Süden verwendet.
2 La Rocca, Fabio: La ville dans tous ses états, Paris 2013, S. 288.
3 Bei 360°-Videos werden die in den drei räumlichen Dimensionen zulässigen Drehbewegungen ‹yaw, pitch, and roll› bezeichnet. In der VR-Literatur werden sie manchmal auch als ‹ degree of freedom › bezeichnet.
4 Der Begriff ‹Rassifizierung› bezieht sich auf Prozesse der Kategorisierung, Marginalisierung oder Betrachtung von Menschen aufgrund rassistischer Stereotype.
5 Nakamura, Lisa: Feeling good about feeling bad: virtuous virtual reality and the automation of racial empathy, in: Journal of Visual Culture 19 (1), 2020, S. 47 – 64.
6 Ellul, Jacques: The Technological Society, New York 1964 [ 1954 ].
7 Baudrillard, Jean: Le système des objets: essai, Paris 1990 [ 1968 ], S. 155.
8 Geuder, Jacob: Digitale Ambivalenzen: Medienaktivismus in Rio de Janeiro, in: Widerspruch: Beiträge zu sozialistischer Politik (67), 2016, S. 108. Online: ‹https://doi.org/10.5169/seals-651880›.
9 Nakamura: Feeling good about feeling bad: virtuous virtual reality and the automation of racial empathy, 2020.
10 Yang, Robert: ‹If you walk in someone else’s shoes, then you’ve taken their shoes›: Empathy machines as appropriation machines, Radiator Design Blog, 2017, ‹https://www.blog.radiator.debacle.us/2017/04/if-you-walk-in-someone-elses-shoes-then.html›.
11 Roquet, Paul: Empathy for the game master: how virtual reality creates empathy for those seen to be creating VR, in: Journal of Visual Culture 19 (1), 2020, S. 65 – 80.
12 Ellul, Jacques: Réflexions sur l’ambivalence du progrès technique, in: La revue administrative (106), 1965, S. 380 – 390; Feenberg, Andrew: The Ambivalence of Technology, in: Sociological Perspectives 33 (1), 1990, S. 35 – 50; Stiegler, Bernard: The Neganthropocene, London 2018; Plato: Phaedrus, Oxford; New York 2002.
13 Zuboff, Shoshana: The Age of Surveillance Capitalism, 2019.