Vigia (Extraterrestre)
Seit den frühen 1960er Jahren sammeln sich im Weltraum allerhand Überreste der Raumfahrt an. Alte Raketenstufen, gefrorene Treibstoffpartikel, Kollisionstrümmer und tausende Satelliten, zu denen schlicht die Verbindung abgebrochen ist. Heute gehen Raumfahrtbehörden davon aus, dass rund 36 500 grössere (>10 cm), 1 000 000 mittelgrosse (1 cm – 10 cm) und 130 000 000 kleinere (<1 cm) menschengemachte Objekte um die Erde kreisen.1
Die Überreste der Raumfahrt sammeln sich in ganz bestimmten Höhen an. Sie finden sich vor allem in tiefen Umlaufbahnen unter 2000 Kilometern Höhe (Low Earth Orbit) und entlang einem engen äquatorialen Ring in rund 36 000 Kilometern Entfernung (Geostationary Orbit).2 Das sind, wenig erstaunlich, genau jene Höhen, die für das einwandfreie Funktionieren der meisten satellitengestützten Technologien seit jeher unerlässlich sind und entsprechend häufig genutzt werden.

Visualisierung von Satelliten und Trümmern um die Erde (nicht massstabsgetreu), aus:
Johnson / McKnight, Artificial Space Debris, 1991.
Die Überreste der Raumfahrt sind gefährlich schnell. Sie kreisen mit Geschwindigkeiten von über sieben Kilometern pro Sekunde um die Erde. Derart hohe Geschwindigkeiten lassen im Fall einer Kollision auch noch die kleinsten Partikel zu einer möglichen Gefahr für Raketen, Satelliten und bewohnte Raumstationen werden.
Die Überreste der Raumfahrt sind äusserst langlebig. Sie benötigen Jahrhunderte, um zur Erde zurückzukehren. Als grober Richtwert gilt, dass menschengemachte Objekte in Umlaufbahnen von 1200 Kilometern Höhe, ungeachtet ihrer Grösse, an die 2000 Jahre im Weltraum verbleiben, bis sie wieder in die Atmosphäre eintreten und dabei verglühen.3
Die Überreste der Raumfahrt lassen sich nicht aktiv aus dem Weltraum beseitigen. Eine aktive Beseitigung von alten Satelliten und Trümmern wäre zwar schon lange dringend geboten, doch davon sind Raumfahrtbehörden heute noch weit entfernt. Eines der am weitesten entwickelten Projekte läuft zurzeit im Auftrag der ESA an der EPF Lausanne unter dem Namen ClearSpace. Das Ziel von ClearSpace ist es, mit einem Budget von 86 Millionen Franken einen Satelliten zu entwickeln, der im Jahr 2025 eine einzige zurückgelassene Raketenstufe greifen und zurück in die Atmosphäre zu ziehen vermag. Dort sollen der neu entwickelte Satellit und die alte Raketenstufe dann gemeinsam verglühen. Wie sich die Millionen von mittelgrossen und kleineren Trümmern beseitigen lassen, bleibt indes weiterhin unklar.
Die Überreste der Raumfahrt werden immer mehr. Die Anzahl der Satelliten und Trümmer wächst in beispiellosem Tempo an. Um dieses Tempo in ein Verhältnis zu setzen: Seit dem Anbruch des Raumfahrtzeitalters im Jahr 1957 wurden insgesamt etwa 14 000 Satelliten in den Weltraum geschossen. Davon funktionieren gegenwärtig noch rund 6200. Alle anderen Satelliten reagieren nicht mehr oder haben sich längst in feinste Trümmerwolken aufgelöst. Raumfahrtbehörden und private Raumfahrtunternehmen planen indes bis 2030 mehr als 30 000 zusätzliche Satelliten in meist tiefe Umlaufbahnen zu bringen.4 Allein in diesem Jahrzehnt sollen also mehr als doppelt so viele Satelliten in den Weltraum geschossen werden, als in der gesamten vorangehenden Geschichte der Raumfahrt.
Kurzum, die sich ansammelnden Überreste der Raumfahrt haben dazu geführt, dass sich der Weltraum in bestimmten erdnahen Höhen von einer noch namenlosen und unbegrenzten Leere hin zu einer messbaren und immer knapper werdenden Ressource für satellitengestützte Technologien gewandelt hat. Wächst die Anzahl der Satelliten und Trümmer derart ungebremst weiter, so wird der erdnahe Weltraum weiter verknappt und droht innert weniger Jahrzehnte endgültig erschöpft zu sein. Viele satellitengestützte Technologien, die heute selbstverständlich in den Alltag von Konsumgesellschaften verbaut sind, drohen dann regelmässig auszufallen oder könnten womöglich gar nicht mehr genutzt werden.
Das Wissen um diese zunehmende Verknappung des erdnahen Weltraums mag neu wirken. Es ist aber so, dass die National Aeronautics and Space Administration (NASA) bereits Mitte der 1970er Jahre damit begann, diese Verknappung zu messen und zu modellieren. Die European Space Agency (ESA) tat es ihr Anfang der 1980er gleich. Weitere Raumfahrtbehörden folgten. Das Wissen um die zunehmende Verknappung des erdnahen Weltraums ist also verhältnismässig alt. Stellt sich unweigerlich die Frage, wodurch die Verknappung des erdnahen Weltraums all die Jahre gewissermassen wider besseren Wissens dennoch vorangetrieben wurde.

Grösse und Geschwindigkeit eines Objekts (links). Die kinetische Energie des Objekts beim Aufschlag auf einen Satelliten (rechts), aus: National Security Council: Report on Orbital Debris, 1989.
Die Auslegungsbedürftigkeit der Verknappung
Eine naheliegende Antwort liesse sich in der gescheiterten internationalen Regulierung des Weltraums finden. Der Ausschuss für die friedliche Nutzung des Weltraums der Vereinten Nationen begann bereits in den 1960er Jahren damit, einen multilateralen Rechtsrahmen für die Benutzung des Weltraums zu erarbeiten. Dieser Ausschuss, in dem alle wichtigen Raumfahrtnationen vertreten sind, hat bis heute fünf Verträge und fünf Grundsätze zu weltraumbezogenen Aktivitäten beschlossen. Alle beschlossenen Verträge und Grundsätze fassen den Weltraum auch ausdrücklich als ein schützenswertes Allgemeingut, das dem Frieden, der Sicherheit und der Entwicklung aller Menschen dienen soll. Das ist natürlich löblich. Das Problem ist jedoch, dass die Artikel der beschlossenen Verträge und Grundsätze derart allgemein gehalten sind, dass daraus bis anhin kaum einklagbare Pflichten gegenüber dem Weltraum abgeleitet werden konnten. Hinzu kommt, dass in diesen Verträgen und Grundsätzen kaputte Satelliten und Trümmer schlicht nicht erwähnt werden. Die Überreste der Raumfahrt sind bis heute rechtlich nicht definiert. Etwas überspitzt liesse sich also antworten, dass es ausgerechnet der von Anfang an zu allgemein gehaltene multilaterale Rechtsrahmen für die Benutzung des Weltraums war, der die Verknappung des erdnahen Weltraums erst ermöglichte und immer wieder legitimierte.
Eine grundlegendere Antwort liesse sich in der raschen Aneignung satellitengestützter Technologien am Boden finden. Ab den 1970er Jahren begannen Raumfahrtnationen immer mehr Prozesse im Bereich der Kommunikation, Navigation und Fernerkundung über Satelliten umzuleiten. Funktionierte eine solche Umleitung, so wurde sie am Boden jeweils innert kürzester Zeit selbstverständlich gemacht, die wachsende Abhängigkeit vom Satelliten gleichsam verwischt. Das lässt sich anhand eines banalen Beispiels eingängig veranschaulichen. Im Jahr 1983 gab Ronald Reagan das ursprünglich militärische Global Positioning System (GPS) für den zivilen Gebrauch frei. Das amerikanische System stand fortan allen Menschen auf der Erde kostenlos zur Verfügung. Daraufhin entwickelte sich ein schnell wachsender Markt für kommerzielle GPS-Empfänger. Um die Jahrtausendwende wurden die GPS-Empfänger allmählich so klein und kostengünstig, dass sie standardmässig in Autos und Lastwagen verbaut werden konnten. Ab Mitte der 2000er Jahre war die satellitengestützte Navigation im Strassenverkehr dann selbstverständlich. Es hat also lediglich zwanzig Jahre gedauert, um die Umleitung der Navigation über einen Satelliten für Menschen und Lieferketten unerlässlich werden zu lassen. Mit diesem Beispiel vor Augen liesse sich also antworten, dass es die rasche Aneignung satellitengestützter Technologien am Boden war, die die Verknappung des erdnahen Weltraums beschleunigte und zugleich immer unersetzlicher machte.
Eine aktuelle Antwort liesse sich in der Privatisierung der Raumfahrt finden. Um die Jahrtausendwende wurden Satelliten nämlich allmählich kleiner und billiger. Raketenstarts wurden erschwinglicher. Auch der Datenaustausch zwischen Erde und Weltraum gestaltete sich deutlich effizienter, was Satellitendienste leistungsstärker und kostengünstiger machte. Diese groben Entwicklungen ermöglichten es privaten Unternehmen erstmals profitorientierte Geschäftsmodelle für den erdnahen Weltraum zu entwickeln. Damit brach Mitte der 2000er Jahre das Zeitalter der kommerziellen Raumfahrt an, das gemeinhin als New Space bezeichnet wird. Dieses Zeitalter der kommerziellen Raumfahrt ist zwar noch keine zwanzig Jahre alt, dennoch gestalten private Raumfahrtunternehmen das Geschehen im Weltraum bereits entscheidend mit. Das bekannteste Unternehmen des New Space ist sicherlich Space X. Die Firma zeichnet sich schon für mehr als ein Fünftel aller jährlichen Raketenstarts verantwortlich und deren im Aufbau begriffene Megakonstellation Starlink, ein satellitengestützter Internetdienst, wird den Grossteil der bis 2030 zusätzlich vorgesehenen Satelliten ausmachen.5 Dieser aberwitzige und rücksichtslose Expansionsdrang von Space X kommt nicht von ungefähr. Das private Raumfahrtunternehmen hat sich zum Ziel gesetzt, möglichst rasch zu wachsen und dabei möglichst viel Profit zu erwirtschaften. Um dieses Ziel zu erreichen, muss Space X den erdnahen Weltraum als kostenlosen, indes endlichen Produktionsfaktor freilich noch vor allen anderen Raumfahrtunternehmen verwerten. Mit einem Seitenblick auf den bisherigen Aufstieg und die schwindelerregenden Zukunftspläne von Space X liesse sich also antworten, dass es der Anbruch der kommerziellen Raumfahrt war, der die Verknappung des erdnahen Weltraums vollends zum Geschäftsmodell erhob und damit zum Selbstzweck machte.
Genau so könnte dieser Essay nun weitergehen. Mit weiteren Antworten auf die Frage, wodurch die Verknappung des erdnahen Weltraums all die Jahre wider besseren Wissens vorangetrieben wurde. Diese weiteren Antworten würden sich auch rasch einmal zu einem einfachen Gegensatz aus guten Warnenden (NASA, ESA, etc.) und bösen Verdrängenden (Nationalstaatliche Eigeninteressen, GPS-Benutzende, Elon Musk, etc.) fügen. Gut gegen Böse, Allgemeingut gegen Produktionsfaktor, langfristige Verantwortung gegen kurzfristige Gier. Alles klar. Alles dankbar. Aber so einfach kann es kaum gewesen sein. Es muss komplizierter gewesen sein.
Eine kompliziertere Antwort auf die Frage beginnt in den Archiven der NASA und der ESA. Historische Quellen aus Washington D. C. und Florenz zeigen nämlich zunächst einmal, wie sich das vermeintlich alte Wissen um die Verknappung des erdnahen Weltraums seit Mitte der 1970er Jahre immer wieder als äusserst brüchig und ungewiss erwies. Diese Brüchigkeit und Ungewissheit des Wissens lässt sich anhand einiger Beispiele bestens veranschaulichen:
Mitte der 1970er Jahre ahnten einige Forschende der NASA erstmals, dass das für die amerikanische Weltraumüberwachung zuständige militärische United States Space Surveillance Network, bestehend aus Dutzenden über den gesamten Erdball verteilten Teleskopen, Radaranlagen und Radiointerferometern, womöglich nicht alle grösseren Objekte um die Erde wahrzunehmen vermochte. Von den mittelgrossen und kleineren Objekten ganz zu schweigen. Die Forschenden befürchteten, dass das bisherige Objektverzeichnis, auf dessen Grundlage sie die zunehmende Verknappung des erdnahen Weltraums erstmals zu messen und zu modellieren versuchten, lückenhaft sein könnte. Um diese Befürchtungen auszuräumen, erhielten die Forschenden die Bewilligung, den militärischen PARCS Radar auf der Cavalier Air Force Station in Nebraska, der die Vereinigten Staaten eigentlich vor sowjetischen Raketen warnen sollte, vorübergehend zu zweckentfremden. Der Radar wurde am 31. Juli 1976 für einige Stunden derart neu ausgerichtet, dass sich mit ihm herausfinden liess, ob es zwischen 200 und 3000 Kilometern Höhe womöglich grössere Objekte gab, die für Satelliten gefährlich, vom bestehenden Überwachungsnetzwerk jedoch nicht verzeichnet werden konnten. Die Auswertung der vom Radar erzeugten Daten legte nahe, dass das besagte United States Space Surveillance Network in gewissen Höhen tatsächlich einen Grossteil der vom PARCS Radar wahrgenommenen grösseren Objekte nicht verzeichnet hatte.6 Diese überraschenden Daten aus Nebraska machten unweigerlich deutlich, wie umständlich und verzerrt der technisch vermittelte Blick auf die Überreste der Raumfahrt im Weltraum eigentlich war und wie ungewiss die Annahmen um die zunehmende Verknappung dadurch blieben. Aus den Daten ergab sich auch eine grundlegende Unsicherheit darüber, welche Sensoren überhaupt bis in welche Höhen welche Objektgrössen wahrzunehmen vermochten.
Bis in die 1980er Jahre war der Start eines Satelliten ein unumkehrbares Unterfangen. Sobald ein Satellit einmal in den Weltraum geschossen worden war, gab es keinerlei Möglichkeiten, diesen Satelliten zu warten oder ihn unbeschädigt auf die Erde zurückzubringen. Die Einführung des amerikanischen Space Shuttles in den frühen 1980er Jahren änderte das. Im Jahr 1984 brachte das Space Shuttle Challenger zum ersten Mal Teile eines Satelliten auf die Erde zurück. Es handelte sich dabei um ersetztes Abdeck- und Isolationsmaterial des Solar Max Satelliten, der zu diesem Zeitpunkt seit rund vier Jahren auf einer Höhe von etwa 500 Kilometern um die Erde gekreist war. Das vom Space Shuttle Challenger zurückgebrachte Material ermöglichte es erstmals, einen Satelliten auf Einschläge von kleineren Objekten und kleinsten Partikeln hin zu untersuchen, um daraus weitere Rückschlüsse über die zunehmende Verknappung des erdnahen Weltraums zu ziehen. Die Ergebnisse dieser Untersuchung verblüfften. Denn auf lediglich einem halben Quadratmeter des Materials fanden sich 160 winzige Durchschläge von kleineren Objekten und hunderte, vom Auge kaum wahrnehmbare Krater von kleinsten Partikeln, die alle zwischen wenigen Millimetern und einigen Dutzend Mikrometern gross waren.7 Eingehendere chemische Untersuchungen zeigten, dass die meisten der durchgeschlagenen Objekte menschengemacht sein mussten und derart schnell auf den Solar Max Satelliten aufgeschlagen waren, dass sie sich in das Abdeck- und Isolationsmaterial hinein geschmolzen hatten. Diese hineingeschmolzenen Partikel liessen offenkundig werden, dass auch noch kleinste Partikel, von denen es Millionen geben musste, problematisch sein konnten. Die Instabilität des technisch vermittelten Blicks in den Weltraum konnte am durchlöcherten Abdeckmaterial des Solar Max richtiggehend abgelesen werden. Mehr noch, der Satellit liess erahnbar werden, dass jegliche Aussagen zum Zustand der Verknappung, die ausschliesslich aus Radar- und Teleskopbeobachtungen abgeleitet wurden, wohl noch lange unzuverlässig bleiben würden.
Am 24. Juli 1996 verzeichnete die Bodenstation des französischen Erkundungssatelliten Cerise einen plötzlichen und unerwarteten Höhenverlust. Eine erste telemetrische Analyse ergab, dass der Satellit unkontrolliert taumelte. Die Instrumente des Satelliten schienen zwar noch intakt, doch deren Funktionen wurden durch die unkontrollierte Bewegung stark beeinträchtigt. Die Situation war rätselhaft. Die naheliegendste Erklärung war, dass der sechs Meter lange Ausleger von Cerise, der zur Stabilisierung und Ausrichtung des Satelliten diente, irgendwie beschädigt worden sein musste. Doch was diesen Ausleger derart plötzlich beschädigt haben könnte blieb völlig unklar. Das französische Centre National des Études Spatiales (CNES) und das Office National d’Études et de Recherches Aérospatiales (ONERA) benötigten über ein Jahr, um sich auf eine abschliessende Erklärung für die Beschädigung von Cerises Ausleger zu einigen.8 Diese bis heute nicht vollständig belegbare Erklärung lautete wie folgt: Im Jahr 1986 startete die ESA eine Ariane Rakete, um einen neuen europäischen Satelliten in den Weltraum zu bringen. Während ihres Flugs stiess die Ariane Rakete eine ausgebrannte Stufe ab. Diese abgestossene Raketenstufe kreiste anschliessend neun Monate unbehelligt um die Erde. Aus unerfindlichen Gründen explodierte die Raketenstufe plötzlich und löste sich dabei in eine Wolke aus tausenden unterschiedlich grossen Trümmern auf. Während der nächsten Jahre verteilte sich diese Trümmerwolke allmählich um den gesamten Globus. Rund zehn Jahre und tausende Erdumrundungen nach der Explosion schlug ein grösseres, von der Erde verfolgbares Trümmerteil zufällig den Ausleger von Cerise ab. Keine zivile oder militärische Raumfahrtbehörde hatte indes vorhergesehen, dass sich an diesem Tag das besagte grössere Trümmerteil der Umlaufbahn von Cerise auch nur annähern würde. Der Zusammenprall ereignete sich gleichsam aus dem Nichts. Mit der nachträglich gefundenen Erklärung wurde auch eingestanden, dass sich die Umlaufbahnen grösserer Objekte weit weniger genau abbilden liessen, als bis dahin angenommen und dass die Abweichungsspielräume in den Positionsbestimmungen von Satelliten viel grösser sein mussten, als bisher gedacht. Das Taumeln von Cerise machte die kostspieligen Folgen solcher Abweichungsspielräume auch erstmals spürbar.
Im Jahr 1993 startete das russische Verteidigungsministerium den militärischen Kommunikationssatelliten Kosmos 2251. Der Satellit war ungefähr zwei auf zwei Meter gross und wog an die 900 Kilogramm. Das russische Militär verlor den Kontakt zu Kosmos 2251 indes bereits nach kurzer Zeit. Ab Mitte der 1990er Jahre kreiste Kosmos 2251 als Müll um die Erde. Kurzer Zeitsprung. Im Jahr 1997 startete eines der ersten privaten amerikanischen Raumfahrtunternehmen, Iridium Communications, einen kommerziellen Kommunikationssatelliten, um deren gleichnamigen Satellitentelefondienst auszubauen. Der Satellit, Iridium 33, hatte mit seinen Solarzellen einen Durchmesser von rund sieben Metern und wog etwa 550 Kilogramm. Er war zudem mit Triebwerken ausgestattet. Mit diesen hätte die Umlaufbahn des Satelliten bei einer drohenden Kollisionsgefahr jederzeit angepasst werden können. Etwas grösserer Zeitsprung. Am 10. Februar 2009 prallten Kosmos 2251 und Iridium 33 völlig unerwartet ineinander.9 Der Zwischenfall ereignete sich wieder wie aus dem Nichts. Die zu diesem Zeitpunkt grösste Weltraumüberwachungsstation, das amerikanische Joint Space Operations Center, das auf die zahlreichen Sensoren des am weitesten entwickelten Überwachungsnetzwerks, dem United States Space Surveillance Network, zugreifen konnte, hatte für diesen Tag nämlich noch nicht einmal eine nennenswerte Annäherung zwischen Kosmos 2251 und Iridium 33 vorhergesehen. Die Weltraumüberwachungsstation erfuhr von der schwerwiegendsten Satellitenkollision der Raumfahrtgeschichte vielmehr durch einen verunsicherten Anruf von Iridium Communications, die herauszufinden versuchten, wo Iridium 33 denn nun eigentlich war. Der Kommunikationssatellit war nicht mehr.10 Der kurzzeitige lokale Ausfall des Satellitentelefondienstes von Iridium, die abertausenden zusätzlichen Trümmer im All und die Ahnungslosigkeit des Joint Space Operations Centers machten unmissverständlich deutlich, dass der erdgebundene Blick auf die Überreste der Raumfahrt immer noch weitgehend unbrauchbar war. Auch wurde in Anbetracht der vielen zusätzlichen Kollisionstrümmer plötzlich klar, wie schlagartig und grundlegend sich die Verhältnisse und Zukunftsaussichten im erdnahen Weltraum ändern konnten.

Allmähliche Zerstreuung von Trümmern nach einem «Break-Up Event», aus: Klinkrad: Space Debris, 2006.
Diese Beispiele veranschaulichen also zunächst einmal, wie sich das vermeintlich alte Wissen um die Verknappung des erdnahen Weltraums über Jahrzehnte hinweg immer wieder als äusserst brüchig und ungewiss erwies. Die Beispiele zeigen, wie das Wissen um die Verknappung regelmässig zu nutzlosen Messungen, unbrauchbaren Modellen, falschen Vorhersagen, ja zu Elektroschrott zerfiel. Sie zeigen, wie sich das Wissen um die Verknappung immer wieder in eine unheilvolle Ahnung, in ein known unknown, in eine räumliche und zeitliche Ungewissheit auflöste. Kurzum, dass die Verknappung des erdnahen Weltraums all die Jahre nichts anderes als eine vigia (extraterrestre) blieb.
Sicher, die Raumfahrtbehörden warnten schon früh vor einer zunehmenden Verknappung des erdnahen Weltraums. Doch sie vermochten deren Ausmass, die damit verbundenen Gefahren und den Zeitpunkt einer endgültigen Erschöpfung des Weltraums nie hinreichend zu bestimmen. Gewiss, die zunehmende Verknappung blieb an sich stets unbestritten. Doch wie diese Verknappung genau zu messen und zu modellieren sei, wie deren zukünftige Entwicklung zuverlässig vorausberechnet werden könnte oder zu welchem Zeitpunkt welche Massnahmen ergriffen werden müssten, das blieb stets umstritten. Freilich, die zunehmende Verknappung brachte in immer kürzeren Abständen immer deutlichere Anzeichen einer problematischen Zukunft hervor. Doch wie diese Zukunft genau aussehen und vor allem wann sie tatsächlich eintreten würde, das musste aufgrund des unzureichenden Blicks in den Weltraum immer wieder den jeweils Deutenden überlassen werden. Sprich, die vigia um die Erde blieb all die Jahre durchweg auslegungsbedürftig.
Die anhaltende Auslegungsbedürftigkeit der vigia erscheint rückblickend ambivalent. Einerseits bot die vigia natürlich überhaupt eine Grundlage, um die vage Gefahr der Verknappung glaubhaft in vorübergehende Messungen und Zukunftsszenarien zu fassen. Spätestens mit den ersten Zwischenfällen im All und den damit verbundenen kostspieligen Folgen ermöglichte sie es zudem, eine umfassendere Regulierung der Raumfahrt einzufordern. Andererseits bot die vigia aber auch immer wieder eine Grundlage, um vorübergehende Messungen und Zukunftsszenarien anzuzweifeln und die anhaltende Brüchigkeit des Wissens hervorzuheben. Bereits mit den ersten Zwischenfällen im All ermöglichte sie es auch, auf der Einzigartigkeit eines jeden Zwischenfalls zu beharren, auf die langen ereignislosen Zeiträume dazwischen zu verweisen und die drohende Erschöpfung des erdnahen Weltraums gleichsam in eine ferne Zukunft zu verschieben. Ja, die drohende Erschöpfung unter Annahme von kommenden technischen Lösungen gar unwahrscheinlich erscheinen zu lassen. Die einzige über Jahrzehnte beständige und allseits geteilte Gewissheit blieb, dass der technisch vermittelte Blick in den Weltraum eindeutiger und zuverlässiger, dass die vigia weniger auslegungsbedürftig, ja dass sie am besten ganz aufgelöst werden müsste. Doch so weit ist es bis heute nicht gekommen.
Die kompliziertere Antwort auf die Frage, wodurch die Verknappung des erdnahen Weltraums all die Jahre wider besseren Wissens dennoch vorangetrieben wurde, lautet also, dass es ein « wider besseren Wissens » so nie gab, dass es auf einer tiefer liegenden Ebene eben gerade die anhaltende und ambivalente Auslegungsbedürftigkeit der vigia war, die die Verknappung des erdnahen Weltraums über Jahrzehnte immer weiter vorantrieb. Die kompliziertere Antwort entlarvt den dankbar klaren Gegensatz aus guten Warnenden und bösen Verdrängenden gleichsam als eine vereinfachende Verklärung. Sie löst die Gegensätze zwischen Gut gegen Böse, Allgemeingut gegen Produktionsfaktor, langfristiger Verantwortung gegen kurzfristiger Gier in ein Gewirr vorübergehend gerechtfertigter Auslegungen der Verknappung und daraus abgeleiteter Zukünfte auf. Das heisst mitnichten, dass es keine historische Verantwortung oder gar Schuld für die zunehmende Verknappung des erdnahen Weltraums gibt. Jedoch, dass diese historische Verantwortung oder Schuld rückblickend eher strukturell gedacht werden muss und sich nicht so einfach auf einzelne Interessengruppen der Raumfahrt abwälzen lässt. Das heisst keineswegs, dass es im erdnahen Weltraum zu keinem historischen Versagen oder gar zu offenem Unrecht gekommen ist. Indes, dass dieses Versagen oder Unrecht vor allem darin begründet liegt, dass die vigia über Jahrzehnte für einzelne Interessengruppen der Raumfahrt bis heute auslegbar geblieben ist.
Strategien gegen die Auslegungsbedürftigkeit
Diese kompliziertere Antwort irritiert. Denn sie bietet keinen klaren Fingerzeig. Keine eindeutig Schuldigen. Keinen einfachen politischen Feind. Keine gerechtfertigten Empörungen. Keine Parolen. Aber vielleicht vermag die kompliziertere Antwort dafür, die gegenwärtigen Widersprüche der Raumfahrt ein wenig sichtbarer und verständlicher werden zu lassen.
Die anhaltende Auslegungsbedürftigkeit der Verknappung macht etwa verständlicher, wie die NASA heute mehr denn je vor einer drohenden Erschöpfung des erdnahen Weltraums warnen und sich dennoch für die Privatisierung der Raumfahrt aussprechen kann. Die anhaltende Auslegungsbedürftigkeit macht auch nachvollziehbarer, wie Space X innert kürzester Zeit eine beispiellose Anzahl an Satelliten in den erdnahen Weltraum schiessen kann und dennoch ohne grossen öffentlichen Aufschrei zu behaupten vermag, nachhaltige Raumfahrt zu betreiben.11 Die anhaltende Auslegungsbedürftigkeit macht begreiflicher, wie es die ESA schafft, den von ihr finanzierten ClearSpace Satelliten als vorausschauendes Vorzeigeprojekt zu vermarkten, obwohl sich Forderungen nach einem solchen Projekt bereits in europäischen Publikationen aus dem Jahr 1990 finden.12 Sie lässt auch verständlicher werden, wieso die 36 500 grösseren menschengemachten Objekte immer noch nur ungenau verfolgt werden können oder weshalb die grobe Annahme von 1 000 000 mittelgrossen und 130 000 000 kleineren menschengemachten Objekten wohl noch lange eine grobe Annahme bleiben wird. Aber vor allem macht die jahrzehntealte Auslegungsbedürftigkeit der vigia klar, dass es wohl gänzlich neuer politischer Strategien bedarf, um diese Auslegungsbedürftigkeit und deren immer schwerwiegenderen Folgen in den Griff zu bekommen.
Eine solche Strategie könnte sein, die zunehmende Verknappung des erdnahen Weltraums als vigia fortwährend blosszustellen. Unablässig darauf hinzuweisen, dass die Verknappung auch weiterhin nicht zuverlässig gemessen und modelliert werden kann. Immer wieder darauf aufmerksam zu machen, dass sich das gegenwärtige Wissen um die Verknappung schon bald wieder in eine räumliche und zeitliche Ungewissheit auflösen wird. Unaufhörlich zu betonen, dass sich auch der nächste Zwischenfall im All abermals wie aus dem Nichts ereignen und die Verhältnisse erneut schlagartig und grundlegend ändern wird. Zu mahnen, dass auch die ungewisse Zukunft des erdnahen Weltraums als ein wichtiges Allgemeingut zu verstehen ist. Die Verknappung beharrlich als vigia blosszustellen könnte dabei helfen, Massnahmen überhaupt in eine wirkungsvolle Richtung zu lenken. Weg vom einfachen und verklärenden Gegensatz zwischen vermeintlich guten Warnenden und bösen Verdrängenden. Hin zum grundlegenderen historischen Auseinanderdriften zwischen der Fähigkeit, alltägliche Technologien mühelos im All verschwinden zu lassen und der Unfähigkeit, deren Überreste von der Erde aus erneut sichtbar zu machen. Erst die Arbeit an diesem Auseinanderdriften kann dabei helfen, die vigia weniger auslegungsbedürftig zu machen, ja sie womöglich gar aufzulösen.
Eine weitere Strategie könnte sein, zwischen den vielen interessengebundenen Berechnungen und Auslegungen der Verknappung mehr Reibung herbeizuführen. Widersprüche zu schüren. Konflikte zu suchen. Und zwar, indem die verschiedenen Berechnungen und Auslegungen der Verknappung öffentlicher und polemischer miteinander konfrontiert würden. Das wäre synchron möglich, zum Beispiel indem die von Prof. Hugh Lewis der Universität Southampton berechneten Kollisionswahrscheinlichkeiten für die Megakonstellation Starlink mit den von Space X selbst berechneten Kollisionswahrscheinlichkeiten öffentlichkeitswirksamer verglichen würden.13 Das wäre diachron möglich, etwa indem die 1995 vom amerikanischen National Research Council empfohlenen Massnahmen gegen die zunehmende Verknappung des erdnahen Weltraums polemischer, mit den von den Raumfahrtbehörden seither tatsächlich unternommenen Massnahmen abgeglichen würden.14 Die dabei unweigerlich hervortretenden Widersprüche zu schüren könnte dabei helfen, voneinander abweichende Auslegungen der Verknappung allmählich in einen brauchbaren und beständigen Kompromiss zu zwingen und die vigia gewissermassen durch einen anwendbaren Konsens über die Zukunft der Verknappung zu ersetzen.
Eine ganz anders geartete Strategie könnte sein, die Verknappung des erdnahen Weltraums schlicht als einen überfordernden Prozess anzuerkennen. Während den vergangenen fünfzig Jahren ist es schliesslich trotz ausserordentlicher technischer Anstrengungen weder gelungen, die Auslegungsbedürftigkeit der vigia um die Erde zu schliessen noch geteilte Annahmen über das Ausmass der Ungewissheit herzustellen, geschweige denn, die vigia ganz aufzulösen. Es scheint in Anbetracht der völlig unerwarteten Kollision von Kosmos 2251 und Iridium 33 im Jahr 2009 auch nicht abwegig anzunehmen, dass dies auch während der kommenden fünfzig Jahre nicht gelingen wird. Die Verknappung des erdnahen Weltraums wird für die Raumfahrt auf absehbare Zeit wohl eine räumliche und zeitliche Ungewissheit bleiben. Sie so als einen überfordernden Prozess anzuerkennen, regt gleichsam dazu an, die historisch gewachsene Abhängigkeit von satellitengestützten Technologien grundlegend zu hinterfragen. Die vigia wird in ihrer Unauflösbarkeit gewissermassen zu einer persönlichen Angelegenheit, stellt sie Benutzer*innen von satellitenbasierten Technologien doch unweigerlich vor die Aufgabe, über ganz eigene Auswege aus der wachsenden Abhängigkeit vom schwindenden erdnahen Weltraum nachzudenken.
1 | Vgl. ESA: Space Debris by the Numbers, ‹https://www.esa.int/Space_Safety/Space_Debris/Space_debris_by_the_numbers›, Stand 16.09.22. |
---|---|
2 | Vgl. die frei verfügbaren 3-D Visualisierungen von Stuff in Space oder Leo Labs. |
3 | Vgl. ESA: Falling to Earth Takes a Long Time, ‹https://www.esa.int/ESA_Multimedia/Images/ 2021/02/Falling_to_Earth_takes_a_long_time›, Stand 16.09.22. |
4 | Vgl. Astronomy: The Future of Satellites Lies in the Constellations, ‹https://astronomy.com/ news/2021/06/the-future-of-satellites-lies-in-giant-constellations›, Stand 17.09.22. |
5 | Vgl. Gunter’s Space Page, ‹https://space.skyrocket.de/doc_chr/lau2021.htm›, Stand 16.09.22. |
6 | Vgl. Hedren; Anderson: Comparison of the Perimeter Acquisition Radar Attack Characterization System Satellite Track Capability to the Space Defense Center (SDC) Satellite Catalogue, 1976. |
7 | Vgl. Kessler et. al.: Examination of Returned Solar-Max Surfaces for Impacting Orbital Debris and Meteoroids, 1985. |
8 | Vgl. Alby, F.; Lansard, E:; Michal, T: Collision of Cerise with Space Debris, 1997. |
9 | Vgl. J-C. Liou: An Analysis of the FY-1C, Iridium 33, and Cosmos 2251 Fragments, 2011. |
10 | Vgl. Iridium Communications Inc. Pressemitteilungen vom 26. Februar 2009 und vom 9.März 2009, ‹https://www.iridium.com/press/›, Stand 16.09.22. |
11 | Vgl. Space X: Space X’s Approach to Space Sustainability and Safety, ‹https://www.spacex. com/updates/#sustainability ›, Stand 16.09.22. |
12 | Vgl. Eichler, P; Rex, D.: Chain Reaction of Debris Generation by Collisions in Space – A Final Threat to Spaceflight?, 1990. |
13 | Vgl. Hugh Lewis auf Twitter, @ProfHugh Lewis. |
14 | Vgl. NRC, Orbital Debris. A Technical Assessment., 1995. |